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EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN: “Wir geben den Dingen mehr Raum!”

Dieser Interview-Riemen ist schon ein wenig älter: Mitten in der Corona-Krise im Mai 2020 sprach ich mit Blixa Bargeld von den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN. Aufhänger war das neue (immer noch aktuelle) Studioalbum „Alles in Allem“, darüber hinaus ging es um Klang und Krach, Schrottplätze und Philharmonien, NICK CAVE und HENRY ROLLINS, „Babylon Berlin“ und andere Hauptstadt-Filme, um notierte Träume und verlorene Heimaten, den konsequenten D.I.Y-Ansatz und mit was man sich im Lockdown sonst so die Zeit vertreibt. Am Ende verrät uns der Meister eines seiner Lieblingsrezepte.

Blixa Bargeld ist so, wie man ihn sich vorstellt. Einer der wenigen Rockstars, die diese Republik hervorgebracht hat. Und eine der wenigen glaubhaften Figuren zwischen Underground und Hochkultur, zwischen Feuilleton und Punkclub. Stolz und unantastbar. Hellwach, präzise und klar in seinen Formulierungen, was er auch von seinem Gegenüber erwartet. Viel Namedropping. Humor, oft zwischen den Zeilen. Bargeld lauert auf Fehler, kann aber auch charmant und witzig sein. Wenn er sich wohl fühlt, dann berlinert er für wenige Augenblicke. Die Gesamtwetterlage kann mit jeder neuen Frage abrupt umschlagen.

Pressepromoterin Alexandra Dörrie weiß um meine langjährige Verehrung des NEUBAUTEN-Œuvres und schanzt mir den letzten Slot des Interviewtages zu – ohne Anschlusstermin. Beste Frau! Schnell noch die Frage der Anrede geklärt („Ich tät mal sicherheitshalber Sie sagen“) … und dann gespannt vor dem Rechner eingefunden. Pünktlich auf die Minute bimmelt der Meister via Videokonferenz durch. Er sitzt an seinem Schreibtisch bei sich daheim in Berlin-Mitte.

Herr Bargeld, kurz nach der Jahrtausendwende begannen die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN damit, das Internet zum regen Austausch mit ihren Fans zu nutzen – ein wenig so, wie die Welt gerade zu großen Teilen miteinander kommuniziert …

Das ist nicht ganz richtig. Meine Frau, die hier jetzt gerade auch der Host für dieses Zoom-Meeting ist, hat 2002 das Crowdfunding erfunden. Sie hat den Code dafür geschrieben und die Plattform gebastelt. Mit den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN haben wir seit 2002 in insgesamt vier Phasen in so einer Crowdfunding-Situation gearbeitet. Teil unseres Angebots war dabei immer auch etwas, das damals ebenfalls als Begriff noch nicht existierte: Webcasts. Zu festgelegten Zeiten konnte man sich zu uns ins Studio schalten und sehen, wie wir arbeiten. Dazu gab es ein eigenes Forum und einen eigenen Chat – das alles ist Teil unseres sogenannten Unterstützer-Modells, wie wir es damals genannt haben. Heute ist das alles bekannt als Crowdfunding. Mit unserem neuen Album „Alles in Allem“ schließen wir gerade Phase IV dieses Unterstützer-Modells ab. Diesmal haben wir jedoch nicht wieder eine eigene Plattform aufgezogen, sondern einen der inzwischen vielen Anbieter genutzt: Patreon hat uns alle Legosteine geboten, die wir brauchten, um dieses Album so zu realisieren, wie wir uns das vorgestellt haben – von der Kreditkartenabrechnung über das Streaming hin zur deutschen Steuererklärung, all das konnten wir über Patreon abwickeln und mussten uns dafür nicht wieder ein eigenes Programm schreiben. Das ist die Art und Weise, wie wir mit unseren Unterstützern verkehren. Fans nenne ich sie aus etymologischen Gründen nicht. (lächelt)

Thema des neuen NEUBAUTEN-Albums „Alles in Allem“ ist Berlin …

Das Album hat kein Thema. Die Idee, die der Platte zugrunde liegt, war diesmal: Wir arbeiten ein Jahr und insgesamt 100 Tage lang daran. Berlin war ein Referenzpunkt – ganz am Anfang. Als ich damals gefragt wurde, ob es ein Thema oder ein Konzept gibt, habe ich gesagt „Vielleicht hat es etwas mit Berlin zu tun …“ Das blieb dann eine ganze Weile so stehen, wir haben auch konkret an einem Stück gearbeitet, das „Welcome To Berlin“ hieß. Das war lange ein provisorischer Arbeitstitel. Das Stück hat es aber nie durch die Qualitätskontrolle geschafft, damit ist dieses Referenzzentrum irgendwann gekippt. Es gibt nun zwar mehrere Stücke auf dem neuen Album, die nach Berliner Bezirken bekannt sind – „Tempelhof“ und „Wedding“ etwa oder „Am Landwehrkanal“, auch das ist Berliner Topographie. Aber in der Mitte ist es leer. Echte Referenzen oder ein übergeordnetes Thema „Berlin“ gibt es nicht. „Alles in Allem“ ist kein Konzeptalbum geworden.

Da bin ich zugegeben ein wenig erleichtert, denn bis auf die genannten Lieder habe ich auf „Alles in Allem“ nämlich wenig Berlin gefunden …

Richtig. Vielleicht hätte ich den Waschzettel (das Presseinfo – Red.) doch korrigieren sollen … Aber nennen Sie mir ein Stück, dann erzähle ich Ihnen etwas dazu!

Meine erste Liebe auf „Alles in Allem“ war witzigerweise eine Nummer, die bei den Bonustracks gelandet ist: „Si Takka Lumi“.

Ah, okay. Dieses Stück entstand, als die NEUBAUTEN zum ersten Mal seit der letzten Platte „Lament“, einem Themenalbum über den 1. Weltkrieg, wieder gemeinsam im Studio zusammengekommen sind: für eine Auftragsarbeit von Arte zu „100 Jahre Bauhaus“. Die Originalversion von „Si Takka Lumi“ ist erheblich länger und erheblich schwächer. Das Lied musste damals eine bestimmte Länge haben und tourt noch immer unter dem Titel „Das Totale Tanz Theater“, so eine Art 3-D-Virtual-Reality-Show mit Musik von den NEUBAUTEN. Für „Alles in Allem“ habe ich diese lange Version von „Si Takka Lumi“ zusammengeschnitten, erst dann machte sie für mich Sinn. Die ursprüngliche Version kann man aber immer noch auf Arte finden.

Zweiter Lieblingssong auf „Alles in Allem“: „Taschen“.

Ja, „Taschen“ ist super. Darf ich Ihnen kurz die Taschen zeigen, um die es geht? (Er sucht auf seinem Smartphone und hält dann ein Bild in die Kamera). Um diese Teile hier geht es, im Berliner Volksmund auch „Polenkoffer“ genannt: Diese Plastik-Gewebetaschen mit dem ubiquitären blau-roten Karomuster und einem großen Reißverschluss oben drüber. Mit der Idee, damit mal etwas zu machen, war ich schon lange schwanger gegangen. Dass die erst jetzt Verwendung fand, liegt schlicht daran, dass sie einen nicht mehr auf Schrottplätze lassen – versicherungstechnisch. Wir haben lange telefoniert und schließlich auch einen gefunden in Brandenburg unweit der polnischen Grenze, der uns reinlassen wollte. Aber als wir da ankamen, hat man uns gerade bis zur Müllhalde gelassen. Weiter rein durften wir nicht. (Mit verstellter Stimme): „Haben Sie auch Edelstahl? Chrom?“ – „Ja, haben wir, verkaufen wir aber nicht …“

Warum ist es wichtig, auf Schrottplätze zu gehen?

Es ist nicht wichtig. Aber man kann dort Dinge finden, die vielleicht in sich eine Geschichte tragen, mit der wir etwas anfangen können – etwas Neues. Dinge, die wir überlisten können, so dass sie etwas von sich preisgeben. Es geht nicht um Sound. Wir sind nicht darauf angewiesen, mit Schrott zu spielen. Wir sind mit allen Materialien schon durch und auch mit allem, was sich in irgendeiner Weise überlisten lässt, um etwas von sich preis zu geben. Aber manchmal ist es doch gut, irgendeinen Gegenstand zu finden, der eine andere Geschichte hat. Wie gesagt, da geht es nicht um Klang, sondern darum, dass sich ein metaphorisches Feld öffnet, mit dem wir arbeiten können und mit dem wir irgendwo hin kommen, wo wir noch nie zuvor waren. In der Richtung Schrottplatz ist das für uns aber scheinbar nicht mehr länger abgreifbar. Doch die alte Idee, etwas mit diesen „Polenkoffern“ zu machen, wurde für „Alles in Allem“ neu initialisiert.

Sie hatten sich also woher auch immer diese alten Taschen besorgt. Wie ging das dann weiter?

Zuerst habe ich sie mit Helium gefüllt, weil ich dachte, ich könne sie schweben lassen. Ich stellte mir vor, dass wir auf der Bühne stehen und die Dinger plötzlich abheben und Richtung Bühnenhimmel entfleuchen – und dass das ein großartiges Bild abgäbe. Aber die Taschen wollten weder fliegen noch schweben. Daraufhin haben wir sie mit Styroporflocken gefüllt – Packing Peanuts. Doch da ging in der Band die Diskussion los, ob man überhaupt noch mit Styropor und solchen Materialien arbeiten sollte. Es endete damit, dass wir die Taschen mit Lumpen gefüllt und ein Mikrofon reingesteckt haben. Die Lumpen schaffen ein Volumen, und dieses Volumen zusammen mit dem Anschlag der Schlagzeugstecken auf diesem Plastikgewebematerial hat gereicht, um dem eine Berechtigung zu verschaffen. Und dann gibt es noch eine weitere Tasche, auch als Resultat dieser Diskussion, die ist voll mit kleinen Containern: Tupperware-Dosen, die wiederum mit kleinen Gegenständen wie Erbsen, Nägeln und Münzen gefüllt sind. Die ganze Tasche voll damit! Und die kann man spielen wie eine Mega-Maracas, also eine Rumba-Rassel. Das ist Alexander Hackes Solo-Tasche. Als wir dann gespielt haben … Rudolf Moser mit seiner Gamelan-Idee, Jochen mit zwei Taschen und Andrew mit zwei Taschen, die übrigens den Rhythmus einer chinesischen Baustelle spielen, die ich mal in Wuhan aufgenommen habe … und als da dann noch Alex’ Solotasche dazu kam, dachte ich mir nur: „Das ist das Meer!“ Ich sah die Wellenbewegung vor mir, das Rudern.

Wie es das Meer in den Text von „Taschen“ geschafft hat, habe ich noch immer nicht kapiert.

Ich hatte ohnehin vor, ein Stück weiterzuschreiben, das auf unserem Album „Perpetuum Mobile“ ist: „Grundstück“. Das beginnt mit dem Satz „Was ich in deinen Träumen suche? Ich suche nichts, ich räume nur auf.“ Das Weiterschreiben ging in diesem Fall so: „Was wir in deinen Träumen suchen? Wir suchen nichts. Wir warten.“ So läuft das oft bei mir: Ich mache mir ein Problem, und dann muss ich dafür eine Lösung finden – das ist für mich Komponieren und Schreiben. Die Frage hier war: Wie komme ich auf die andere Seite von diesem Meer? Da fiel mir Ghayath Almadhoun ein, ein syrisch-palästinensischer Dichter, der gerade auf Deutsch ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel „Ein Raubtier namens Mittelmeer“. Ihn habe ich gefragt, ob ich diese Zeile verwenden darf, und er sagt „I would be honored“. Dieser Buchtitel stand da dann lange als Platzhalter. Bis ich eines Morgens aufwachte und eine Zeile aus „Ich gehe jetzt“ (ebenfalls auf „Perpetuum Mobile“) weiterdachte. Aus der wurde dann „wälzt die Wogen ungeheuer, ein gefrässiges Ungetüm“. Das hat letztendlich diesen Platzhalter von Ghayath Almadhoun ersetzt. Es war tatsächlich die allerletzte Zeile, die ich für das neue Album geschrieben habe. Die einzige Frage, die sich mir dann noch stellte: Kann man Wogen wälzen? (Kunstpause; er lächelt) Das habe ich gegoogelt – ob es irgendwo ein Wogenwälzen gibt. Und siehe da: Ein bedeutender deutscher Dichter hat schon einmal Wogen gewälzt.

Nämlich?

Friedrich Nietzsche (lacht). Wenn er das kann, ist es grammatikalisch wohl justiziabel. Die Zeile war damit gekauft.

Sind Sie zufrieden mit „Alles in Allem“?

Ich finde die ganze Platte großartig. Wir hatten letzte Woche drei Listening-Sessions mit jeweils hundert von unseren Unterstützern, wo wir ihnen das komplette Album vorgespielt haben. Da haben wir sehr viel schönes Feedback gekriegt. „Taschen“ finden alle wunderbar, aber die meisten bezeichnen „Seven Screws“ als das zentrale Stück auf dem Album.

Lassen Sie uns über eine andere Nummer auf „Alles in Allem“ sprechen. In „Grazer Damm“ ruft der Protagonist die Bullen, weil die jungen Leute von Gegenüber die Nacht zum Tag machen. Fiktive Story oder sind Sie schon so weit?

Neee neee neee, das ist ganz anders. Der Grazer Damm ist ja die Straße, in der ich aufgewachsen bin. Meine Schwester wohnt da immer noch. Das Lied fängt an mit fünf realistischen Splittern – von wegen „Der Senat lagert Briketts für schlechte Zeiten ein“ – und hört auf mit fünf realistischen Splittern. Alles dazwischen ist ein Traum. In dem rufe nicht ich die Polizei, die kommt einfach. „Gegenüber auf der Strasse lärmen Leute in Kostümen. Sie trommeln und sie johlen, es soll wohl etwas Festliches sein. Ein festlich verbrämter Krawall.“ Und dann geht es nur noch ums Fallen: Menschen purzeln vom Dach, Fallschirmspringer in Astronautenkostümen landen auf der Straße – das ist einfach ein Traum. Im Original gab es da noch Treibsand, der unter den Personen wegbricht, aber das habe ich gekürzt.

Faszinierend: Sie erinnern sich an Ihre Träume.

Ich habe nicht immer das Glück. Aber ich habe es mir zur Disziplin gemacht, grundsätzlich jeden Tag etwas zu schreiben, und wenn es mir vergönnt ist, mich an einen Traum zu erinnern, dann schreibe ich auch den auf. Ich habe eine ganze Mappe nur mit Traum-Protokollen. Es gibt auch ein NEUBAUTEN-Album, da sind alle Texte nur Träume: „Jewels“.

Nach San Francisco und Peking leben Sie jetzt wieder in ihrer Heimatstadt Berlin. Kann Berlin Sie noch überraschen?

Als wir 2010 aus Peking und San Francisco zurückgekommen sind, sind wir nach Berlin-Mitte gezogen. Ich bin aber gebürtiger West-Berliner. Das vor meiner Haustür ist für mich quasi Terra incognita. Ich verbinde mit diesem Teil der Stadt nichts. Wenn ich hingegen durch den Tiergartentunnel nach West-Berlin fahre, kann ich sagen „dort hat meine Freundin gewohnt“ und „hier war mein Zahnarzt“. Wo ich jetzt lebe, is’ nix, da stammen alle Erinnerungen aus der Zeit nach 2010. Ich bin zwar de facto in Berlin, aber ich komme aus West-Berlin. Und West-Berlin gibt es nicht mehr. Dieses Schicksal teile ich mit anderen Leuten wie Carsten Nicolai: Bei dem steht im Paß „Geburtsort: Karl-Marx-Stadt“. Gibt es auch nicht mehr … (lächelt)

Die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN durften als erste Künstler in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten. Unter uns: Wie steht es denn dort nun um den Klang? Die einen sagen so, die anderen so …

(lacht). Schwer zu sagen. Von der Bühne herunter kann ich ja nicht beurteilen, wie sich was anhört. Für uns war es jedenfalls sehr angenehm, dort zu spielen. Aber als kleines Bonmot: Das Problem ist nicht, wie gut ist der Sound – das Problem ist, dass die Leute alles glauben, was sie hören. Wirklich alles, auch, wenn ich mir bei „Silence Is Sexy“ eine Zigarette anzünde … (Er lächelt) Ich darf noch anfügen: Das letzte Konzert dieser Tour fand ebenfalls in einer Philharmonie statt, nämlich in Luxemburg, und die wurde von dem selben japanischen Sounddesigner eingerichtet und eingemessen. (Pause) Die fand ich besser. (lächelt)

Täuscht mich der Eindruck oder sind die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN ähnlich wie die Kollegen von KRAFTWERK inzwischen weitgehend im Museum angekommen? So schäbige Rockclubs spielt Ihr ja kaum noch …

Naja, die Philharmonien stellen noch nicht den größten Teil unseres Tourneekalenders. Es ist aber immer schön und uns vergönnt, etwa in Rom im „Parco della Musica“ oder im „Koncerthuset“ in Kopenhagen zu spielen, das ist wunderbar. Da sind die Voraussetzungen für uns einfach gut. Gerade bei der „Lament“-Tour war es von Vorteil, in bestuhlte Hallen zu spielen statt Open Air. Obwohl: Ein Festival war tatsächlich dabei, Umsonst&Draußen in Belgien. Raten Sie mal, wer da unsere Vorgruppe war?

Verraten Sie es uns!

DONOVAN. (lacht)

Schön!

Finde ich auch. Der hat alle seine Hits gespielt und danach kamen die NEUBAUTEN mit ihrem Erster-Weltkrieg-Programm.

An so einem Abend hat man dann wenigstens nicht zweimal das Gleiche gesehen …

Ja, da war für alle Altersstufen etwas dabei.

Darf ich noch ein paar Fanboy-Fragen loswerden?

Nur zu.

Besteht die Chance, dass Ihr nochmal irgendwann irgendwelche ganz frühen NEUBAUTEN-Sachen live spielt?

Naja, zu unserem 30-jährigen Bandjubiläum hatten wir eine Tour, wo wir immer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an einem Ort gespielt haben: Einen Abend unser ganz normales Programm und am anderen Abend dann spezielle Sachen, die wir nur für diese Tour eingeübt haben. Da war alles dabei, auch Uralt-Stücke wie „Seele brennt“. Aber die Band, die jetzt EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN ist – Version 3.0 -, die operiert ja länger als irgendeine Version davor. Wir sind jetzt mehr als 20 Jahre in dieser Besetzung unterwegs. Die Sachen, die ich mit 1.0 und 2.0 gemacht habe, entsprechen ja gar nicht mehr dem Realismus der Personen, die da heute auf der Bühne anwesend sind. Es gibt Lieder, die spielen wir noch aus dem Repertoire von 2.0, aber es werden immer weniger. Man muss dazu sagen: Viele Dinge, die die NEUBAUTEN über die Jahrzehnte aufgenommen haben, lassen sich gar nicht mehr reproduzieren, weil sie so verhaftet waren mit bestimmten Instrumenten, und wenn diese Gegenstände nicht mehr da sind, dann sind die betreffenden Lieder auch gar nicht mehr spielbar. Ein Stück wie „Draußen ist feindlich“ von unserem Debütalbum „Kollaps“ etwa, das mir jetzt gerade ständig wieder durch den Kopf geht … mit den Textzeilen „Schließ Dich ein mit mir, hier sind wir sicher. Ich liebe Dich, vergiss es!“ übrigens ein ganz wunderbares Quarantänestück …

… zweifelsohne!

… diese Nummer können wir nicht mehr bringen, weil der Deckel, auf dessen drei Ecken diese drei Töne gespielt wurden, nicht mehr existiert. Das müssten wir sampeln und dann auf Knopfdruck vom Keyboard abrufen, was aber ein bisschen uninteressant ist …

Stimmt.

Aber selbst die alten NEUBAUTEN konnten ein Stück wie „Feurio“ live nie so spielen, wie es auf dem Album war. Das ist jetzt ganz anders. „Lament“ wurde nicht als Platte konzipiert, sondern als Live-Ereignis. Und auch die neue Scheibe wurde unter den Gesichtspunkten geschrieben und komponiert „können wir das live?“. Und wir können das ganze Album live spielen. Vielleicht erklärt das auch, warum sowohl „Lament“ als auch „Alles in Allem“ viel mehr Raum haben. Früher hatte ich immer das Gefühl „Hier muss noch was hin“ und „Dort muss noch was gemacht werden“. Jetzt ist da ganz einfach mehr Raum. Wir geben den Dingen mehr Raum.

Eines meiner ewigen Lieblingsstücke der NEUBAUTEN ist „Merle (Die Elektrik)“. Aber was ist das für eine Stimme, die da erzählt, dass Merle eine rothaarige Schwester hatte und dass die auch nicht länger durchhalten wird. Das war ein Polizei-Tonband, oder?

Das ist richtig. Aber dieses Tonband war gar nicht der Ausgangspunkt von dem Stück. Als wir 1983 an „Die Zeichnungen des Patienten O.T.“ gearbeitet haben, war der Arbeitstitel „Jäger & Sammler“. Das war eine Entwicklung aus dem Album vorher – „Kollaps“ – wo wir dieses Schlagzeug hatten, das auseinander bricht in seine Einzelteile, sich in ganz viel Metall verwandelt. Der nächste Schritt von dort war für uns der Ansatz: Wir spielen nicht nur auf Metall, wir erforschen jetzt alles! Alle Materialien, die uns zugänglich sind. Wir sammeln, was wir finden können, auch Audioaufnahmen. „Merle“ fängt an mit einem großen Blech, das an mehreren Stellen mit Kontaktmikrofonen versehen wurde und auf dem alles mögliche gemacht wird – herumgekratzt, draufgehauen. Dazu kamen kleine Elektrogeräte wie ein Gravurstift. Das ist der instrumentale Hintergrund. Auf Tour fiel uns dann eine Tageszeitung in die Hand, in der eine Telefonnummer angegeben war, die man anrufen und die Stimme eines Kindesentführers identifizieren sollte. Das war dann dieses „Kennen Sie eine Merle? Sie wird auch nicht länger durchhalten!“ Es stellte sich später aber heraus, dass das ein Trittbrettfahrer war. Relativ disperate Sachen, die hier zusammengefasst wurden. Aber für uns war das Forschung.

Jetzt hab’ ich ja einen soliden Rock-Hintergrund …

Ich auch!

… durch den ich seinerzeit auf die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN aufmerksam geworden bin. Weil ich mich wunderte, welch komisches Männchen dieser HENRY ROLLINS da tätowiert hatte. Dasselbe Männchen tauchte bei Al Jourgensen von MINISTRY auf und bei dem Typen von MAYHEM. Oder auf T-Shirts, die Max Cavalera von SEPULTURA trug …

Stimmt, SEPULTURA. Die habe ich aber nie getroffen. Wir waren aber auch nur einmal in Brasilien auf Tour. HENRY ROLLINS kenne ich, der hat uns mal live gesehen. Das war ein Auftritt in „Max’s Kansas City“ in Los Angeles, bei dem sich Mufti (FM Einheit) schwer verletzt hat und genäht werden musste. Als ROLLINS nach der Show zu uns in Hotel kam, saßen wir da, tranken Wodka und waren schwer bandagiert. Das muss ihn schwer beeindruckt haben. War voller Körpereinsatz damals … (lacht) Aber was die ganzen Metalbands angeht, da kenne ich mich nicht aus. Der solide Rockhintergrund, das sind in meinem Fall die BEATLES, die ROLLING STONES, THE DOORS und THE VELVET UNDERGROUND. Was Metal angeht, müssen Sie Alex (Alexander Hacke) fragen, der kennt sich da aus. Ich nicht. Ich bin so weit weg von dem ganzen Kram … (überlegt) Ich kenne BILLIE EILISH, weil meine Tochter die hört. Finde ich gut. Aber wenn Sie jetzt sagen KAYNE WEST, dann habe ich den Namen schon mal gehört, aber mehr kann ich zu ihm nicht sagen.

Nochmal zu Berlin: Die NEUBAUTEN haben sich ja immer mal wieder mit der Architektur und der Stadtgeschichte ihrer Heimatstadt beschäftigt, sei es in dem Filmprojekt „Berlin Babylon“ (2001) oder bei dem Konzert, das die Band 2006 im Palast der Republik gespielt hat, bevor dieser abgerissen wurde.

Im Palast der Republik haben wir gespielt, weil es uns im Rahmen der Phase III angeboten wurde. Da muss ich ein wenig ausholen. Wir haben ja in diesen verschiedenen Konstellationen unseres Supportermodells aka Crowdfunding immer versucht, Fehler aus der Phase vorher auszumerzen. In diesem Fall hatten wir uns überlegt, ans Ende der Phase III ein großes exklusives Supporterereignis zu stellen. Und da kam Matthias Lilienthal vom Theatercombinat Hebbel am Ufer auf uns zu. Der durfte damals eine Woche lang den Palast der Republik bespielen und bot uns an, dass wir dort etwas machen können. Für uns hat es sich angeboten, unser Supporterkonzert dort zu machen. Genau genommen sind wir zweimal im Palast der Republik aufgetreten, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen: Einmal ohne Bühne und ohne Security nur für die Supporter und ein zweites Mal mit einem offiziellen Konzert auf einer Bühne mit Licht, Eintritt, Sicherheitsleuten undsoweiter. Der erste Abend war natürlich ein komplett außergewöhnliches Konzert mit einem ganz anderen Programm und ganz anderen Stücken. Wir haben auch das Gebäude selbst bespielt, haben Pfeiler und Geländer mikrofoniert und mit dem Gebäude selbst gespielt. Die ganze Aktion war eine brillante Lektion in der Kraft sich selbst organisierender Menschenmengen. In den Tagen zuvor hatten wir mit den Supportern einen Chor einstudiert. Die sind früh um 5 Uhr aufgestanden, um mit Andrew 50 Trommeltische irgendwo in Berlin-Dahlem abzuholen, jemand anderes kommt und sagt, er macht die Teeküche undsoweiter. Dieser Tag war ein wunderbares Beispiel an anarchistischer Selbstorganisation und eines meiner Lieblingskonzerte in der gesamten NEUBAUTEN-Geschichte. Dem folgte am Tag danach wie gesagt ein weiteres Konzert im Palast der Republik, das wir dann auch als DVD veröffentlicht haben …

Haben Sie „Berlin Babylon“ gesehen – die Serie?

Sie meinen „Babylon Berlin“ …

Äh … ja. Sorry, da hatte ich einen Dreher drin.

Weil „Berlin Babylon“ gab es ja schon – mit Musik der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN. Deshalb durfte sich die Serie auch nicht so nennen.

Witzig: Den Film „Berlin Babylon“ (2001) habe ich gestern als Vorbereitung auf dieses Gespräch noch einmal geguckt und war überrascht: Der ist richtig gut gealtert.

Finde ich auch. Es gibt ja nicht viele Filme, die man ausdrücklich als Architekturfilme bezeichnen kann, aber das ist einer. Zu ihrer Frage: Ja, ich habe in Australien ein paar Folgen von „Babylon Berlin“ gesehen. Hmmm … sagen wir mal ganz unverdächtig: Wenn jetzt nicht Corona-Krise wäre, dann hätten wir uns 2020 auf ein Jahr einstellen können, in denen wir die ganze Zeit mit „Die goldenen Zwanziger“, Charleston und Kokain konfrontiert gewesen wären. Und darauf habe ich mich nicht gefreut.

Die „Roaring Twenties“ sind ja mythisch ähnlich überhöht wie die 80er Jahre in West-Berlin …

Die hatten wir in den Jahren zuvor, wo die ganzen 80er-Jahre-Westberlin-Bücher und -Filme rauskamen. „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ mit Alexander Scheer als Blixa Bargeld zum Beispiel.

Wie ist es, wenn man sich selbst im Kino groß auf der Leinwand sieht?

Ich habe mich köstlich amüsiert. Ich hatte mich ja vorher mit Alexander Scheer getroffen, der hatte sich tatsächlich in persona auf die Rolle vorbereitet. Dem musste ich den berühmten Blixa-Quietscher zeigen, wie man so schreit (gibt eine Kostprobe). Ein großartiger Schauspieler. Den, der NICK CAVE gespielt hat, fand ich weit weniger beeindruckend als den, der mich gespielt hat. (lacht)

Als NICK CAVE zuletzt auf der Waldbühne in Berlin gespielt hat, sind wir im Vorfeld schwer davon ausgegangen, dass Sie sich zumindest mal kurz auf der Bühne blicken lassen werden …

Keine Ahnung, hab ich gar nicht mitgekriegt. Wahrscheinlich war ich an dem Tag ganz wo anders. Er sagt eigentlich schon Bescheid, wenn er in der Stadt ist, und ich bin auch immer eingeladen, vorbeizuschauen.

Wie war das bei seinem Film „20.000 Days on Earth“ (2014), wo Sie ja auch auftauchen?

Hab ich nicht gesehen. Ich gucke mir die Filme, in denen ich selber vorkomme, nie an.

Aha. Warum nicht?

Wees ick nich’ … Halt: Den Film von Sophie Kluge, in dem ich ihren Nachbarn spiele, den habe ich mir angeguckt. Ich war ja tatsächlich ihr Nachbar, denn sie wohnte gleich dort gegenüber (deutet zum Fenster hinaus). Wir kannten uns aber nur vom Über-die-Straße-Zuwinken. Genau diese Rolle hatte sie mir in ihren Film geschrieben, das war köstlich und amüsant. Diesen Film („Golden Twenties“, 2019) habe ich tatsächlich gesehen. Aber sonst gucke ich mir Filme mit mir nie an.

Krass.

Wieso?

Naja, die NICK-CAVE-Doku fand ich zum Beispiel wirklich großartig. Wie er selbst seine Biographie strickt und damit auch ein Stück weit sein eigenes Leben inszeniert, das hat schon was.

Wissen Sie, was lustig war? Ich sitze hinten bei ihm im Auto und er erzählt mir was von „20.000 Days on Earth“. Und ich sage: „Oh, witzig. Da gibt es einen NEUBAUTEN-Song, in dem setze ich mich hin und zähle nach, wie viele Tage ich denn schon lebe. Um dann festzustellen: Das hier ist gerade meine 12305 Nacht.“ Daraufhin drehte sich NICK zum Produzenten um und rief: „Wir müssen den Filmtitel ändern!“ (lacht)

Wenn ich mich nicht irre, ist diese Szene im Film zu sehen. A propos NICK CAVE & THE BAD SEEDS: Sie haben auf dem neuen NEUBAUTEN-Album nach langer Zeit mal wieder Gitarre gespielt …

Ja. Ich hab mir sogar eine gekauft, weil ich zu faul war, die anderen wieder in Schuss zu bringen. Die Gitarren, die ich bei NICK CAVE gespielt habe, die alte 67er-Fender etwa, die stecken immer noch in denselben Koffern, in die ich sie verpackt habe, als ich die BAD SEEDS verlassen habe.

Und: Ist Gitarrespielen wie Fahrradfahren – man verlernt es nicht?

Naja, sagen wir mal so: Ich habe es nie gelernt. Ich bin ja der bekannteste Nicht-Gitarrist, der Gitarre spielt. Mein Ideal des Gitarrespielens ist es, eine Gitarre anzuschließen und dann mit Missachtung zu strafen.

Ein ganz hervorragender Ansatz.

Ja. Die New York Times hat mal geschrieben, ich spiele Gitarre, als würde ich auf den Bus warten – also von der Bühnenpräsenz her. Das ist auch ungefähr das, was ich will. Umgekehrt ist vor ein paar Jahren eine Graphic Novel über NICK CAVE erschienen, in der sieht man mich immer nur breitbeinig dastehen, wie Gitarrengötter das eben so machen sollen – also genau so, wie ich auf der Bühne nie Gitarre gespielt habe, diese ganze Form, wie ich sie verachte.

Stimmt es, dass die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN für einen speziellen Klang oder für ein spezielles Geräusch schon mal mit ihrem Equipment um die halbe Welt reisen, um dieses einzufangen und aufzunehmen?

In den 80er Jahren mag das zugetroffen haben, bei Konzepten wie „Jäger & Sammler“ – wir sprachen vorhin darüber. Da hatte ich immer einen Walkman-Recorder dabei. Wenn ich heute mal etwas aufnehmen will, dann habe ich mein iPhone. Die alten Kassetten von damals gibt es aber alle noch. Das NEUBAUTEN-Kassettenarchiv – 500 bis 600 Kassetten, alle sauber beschriftet und durchnummeriert – ist komplett digitalisiert und wurde zum Teil den Supportern zugänglich gemacht. Alles, was irgendwann mal aufgenommen wurde, ist immer noch da. Es gibt ja keine Notwendigkeit, das zu löschen.

Ist aber schon auch ein Aufwand, das alles zu digitalisieren und beschriften.

Die Kassetten sind beschriftet und nummeriert gewesen. Die wurden dann eingeschickt und digitalisiert. Da gab es viele Sachen, die ich beim Hören nicht mehr identifizieren konnte, wann, wo und wie sie entstanden sind. Aber vieles lässt sich auch noch rekonstruieren. Seltsam ist, dass in letzter Zeit immer mehr Nachfragen kommen, was unser Archiv betrifft. Zum Beispiel der letztjährige Berlinale-Gewinner, ein rumänischer Film namens „Touch Me Not“: Die Regisseurin und die Produzentin haben mich vorher kontaktiert, um mir ihren noch nicht fertigen Film zu zeigen. Da kommt dann an einer Stelle plötzlich eine Musik, und ich denke mir „Das kennst du doch …“: Das war eine Aufnahme, die es nur auf Kassette gab oder vielleicht als Bootleg, die ich und Andrew (N. U. Unruh) 1980 im Inneren einer Autobahnbrückenauffahrt aufgenommen haben. Dieses Stück hatte sie sich ausgesucht und wollte es in ihrem Film haben. Das, was da in dem Film zu hören war, war die vierte oder fünfte Generation vom Original entfernt … und das Original musste ich natürlich erst einmal in diesem Kassettenarchiv finden und digitalisieren, damit die das in ihrem Film verwenden können. Das Erstaunliche war, dass wenig später die nächste Anfrage kam, ebenfalls für ein Stück aus dieser Autobahnbrücke – diesmal von einem New Yorker Filmemacher. Ich wundere mich, woher diese Menschen plötzlich diese Stahlmusik von 1980 kennen …

Sie scheinen sehr strukturiert zu arbeiten. Viele Künstler haben ihren Kram unsortiert in irgendwelchen Kisten im Keller oder auf dem Dachboden – wenn überhaupt etwas die Jahre und Jahrzehnte überlebt hat …

Es gibt ein NEUBAUTEN-Archiv, für das sich in Deutschland aber noch nie irgendjemand interessiert hat. Das wird wahrscheinlich nach Stanford gehen. Ein Germanist und Kommunikationswissenschaftler von der Stanford University hat dafür Interesse angemeldet …

NEUBAUTEN-Archiv heißt: Die digitalisierten Kassettenaufnahmen, Ihre Texte und Aufzeichnungen …

Ich habe Berge an Aufzeichnungen. Schauen Sie … (er greift hinter sich und holt ein gebundenes Buch hervor): Das hier ist Band 70 meiner Notizen – und die fangen erst 1993 an. Dann gibt es die ganzen Kassetten, die ganzen Videokassetten, die Aufnahmebänder aus dem Studio, die ganzen Webcasts, seit wir Crowdfunding erfunden haben … Letzteres ist natürlich der Grund, warum Stanford das haben will: Wegen dieser Crowdfunding-Erfindung.

Und: Kriegen sie es?

Bis jetzt ja. Sonst hat ja niemand anderes Interesse angemeldet.

Ich habe den Eindruck, dass die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN noch immer sehr analog arbeiten – analog im Sinne von Stift und Papier …

Wir arbeiten auf eine recht altmodische Weise, das ist richtig. Wir gehen in ein Tonstudio mit einem Toningenieur und sind dort meistens zusammen in einem Raum, wo wir unsere Musik gemeinsam einspielen. Dann hören wir uns das an und machen Take 2, Take 3 undsoweiter. Das sind alles Techniken, die ökonomisch nicht mehr rechtfertigbar sind und die aufgrund der Produktionsweise direkt wieder eine Rückwirkung haben auf das, was überhaupt an Musik produziert wird. Das, was sich für eine Plattenfirma heute rechnet, ist ein Duo, das zu Hause mit einem Laptop alles fertig macht. Sowas rechnet sich, das kann man erklären. Alles, was in Richtung einer Band geht, fängt automatisch an, ökonomisch eine ganz andere Kategorie zu werden. Deswegen haben wir ja auch diese Flut von elektronischer Musik. Sie haben vorhin Heavy Metal angesprochen, da ist Band noch das normale Format. Ansonsten ist es zunehmend schwierig, das in der Musikindustrie durchzusetzen, weil es sich nicht wirklich rechnet. Wir wissen inzwischen alle: Das einzige, was du machen kannst, ist touren. Live spielen und Merchandise verkaufen ist das einzige, was bleibt. Die Platte ist nur noch Beiwerk. Deshalb sind Plattenfirmen ja auch schon lange umgestiegen auf das Konzept „Wir verkaufen den ganzen Künstler“: Die wollen einen Teil vom Merchandise und einen Teil der Toureinnahmen haben. Dafür machen sie die Promo für die Platte. Zumindest in der Größenordnung MADONNA läuft das längst so.

Und Ihr habt Euch mit den NEUBAUTEN so weit es geht aus diesem ganzen Zirkus rausgenommen.

Im Prinzip ja.

Die Promoterin etwa, die dieses Interview angeleiert hat, bezahlt Ihr selbst?

Die haben wir engagiert, das wird alles aus unseren Patreon-Einnahmen bezahlt. Eine große Neuerung für uns ist: Bislang haben wir uns den ganzen Streaming-Diensten verweigert. Weil das Geschäftsmodell für die Künstler beschissen ist. Das Geld, das man aus diesen Streamingdiensten bekommt, ist viel zu wenig. Aber die machen inzwischen einen so hohen Prozentsatz im gesamten Musikkonsum aus, dass wir nicht länger maschinenstürmerisch unterwegs sein und uns dem verweigern konnten. Unsere ganzen letzten Platten haben wir alle mit Download-Code veröffentlicht. Kürzlich habe ich darüber mit jemandem von einer Plattenfirma gesprochen, und der hat mir erzählt, dass die das mal überprüft haben: Kaum einer dieser Download-Codes wird benutzt. Das heißt, wir bezahlen für die Bereitstellung dieser Downloads, die aber niemand nutzt. Das Modell für die meisten unserer Musikkonsumenten ist: Ich kaufe mir das Vinylalbum, ansonsten habe ich ja Spotify – fürs Joggen oder im Auto. Da lädt keiner mehr irgendwelche Mp3s runter.

Streamen Sie?

Ich höre ziemlich viel Radio übers Netz – vor allem BBC 3, die Sendung „Late Junction“. Ein genreübergreifendes Programm, in dem ich dann tatsächlich auch noch überrascht werden kann von irgendetwas Musikalischem. Hier … (er kramt nach einer Notiz) … gestern dort entdeckt: eine Künstlerin namens DERADOORIAN. Schon mal gehört?

Noch nie.

Beeindruckend! Ein Drumming wie Jaki Liebezeit, der CAN-Schlagzeuger. Toll!

Ist es Ihnen wichtig, dass die aktuellen NEUBAUTEN-Platten auf Vinyl erscheinen?

Mir nicht, aber vielen anderen Menschen. Aber auch für mich ist es schön, sie als Schallplatte zu haben. Nur verbringe ich nicht viel Zeit damit, mir meine eigenen Platten anzuhören.

Letzte Frage: Wird bei den Bargelds zu Hause gerade viel gekocht?

Jeden Tag. Ich habe einen Quarantäne-Videoblog für die Unterstützer. In meiner Bibliothek steht inzwischen eine PA mit Mixer, Mikrofon und diversen Loop-Maschinen, damit kann ich alle möglichen Sachen machen. Einmal in der Woche gibt es außerdem die Sonder-Edition „Cooking With Blixa“. Heute gebe ich wieder bekannt, was wir am Freitag machen werden, und dann ist Synchronkochen angesagt. Die Unterstützer loggen sich ein, haben die gleichen Zutaten vor sich, und dann koche ich mit denen zusammen. Wir essen auch gemeinsam – also nicht wie in einer Kochshow, von wegen „Ich hab da mal was vorbereitet“, sondern tatsächlich alles in Echtzeit. Das alles landet dann auf InstagramTV, inklusive der Playlist, was da für Musik im Hintergrund läuft.

Ist das dann so Artsy-fartsy-Kram, den Sie zubereiten?

Nein, gar nicht. Zeiten wie diese verlangen nach einfachen Gerichten – aber immer mit einem ungewöhnlichen Dreh. Eine Brokkolisuppe zum Beispiel, aber dann als „Seared Broccoli Soup“ nach dem Rezept von Melissa Clark von der New York Times. Die unterscheidet sich dadurch, dass man den Brokkoli erst einmal konsequent anbrennen lässt. Wenn man den dann rausnimmt, ist er auf der einen Seite grün und auf der anderen Seite braun. Dann macht man alles fertig und hat am Ende eine Brokkolisuppe, die schmeckt, wie man noch nie zuvor eine Brokkolisuppe gegessen hat. So’ne Rezepte mach ick. Oder das römische Stadtrezept „Spaghetti Cacio e Pepe“: Spaghetti mit Pecorinokäse und schwarzem Pfeffer. Hier ist der Trick, dass man aus dem Pfeffer einen Sud machen muss: Grob zermalen, mit dem Nudelwasser ein wenig aufgießen und so lange kochen, bis man eine Flüssigkeit hat, die wie Kaffee aussieht. Dann erst wird das mit den Nudeln und dem Käse vermischt. Drei Zutaten – fertig!

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PRISTINE: The Lines We Cross

Mit diversen Touren und ausgewählten Festivalauftritten haben sich die norwegischen Bluesrocker PRISTINE tief in die Herzen der deutschen Rockfans gespielt. Das neue sechste Studioalbum “The Lines We Cross” zeigt Sängerin Heidi Solheim und ihre Truppe in Höchstform und hundertmal interessanter als etwa diese völlig überschätzten BLUES PILLS.

PRISTINE liefern ein Dreiviertel Stündchen lang Hit auf Hit

Ein gutes Dreiviertelstündchen hagelt es Hits am Stück: Kraftvoll im Rock, Gänsehaut bei den Balladen – und interessant immer dann, wenn es ein wenig experimenteller wird, etwa mit dem perfide groovenden “Sad Sack In A Cadillac”. Das Titelstück ist ganz großes Rockkino. Bemerkenswert auch “Carnival”: Als erste Single eine siebenminütige Ballade auszukoppeln, bei der erst mal nur Stimme und Orchester zu hören sind… und wenn dann die Rockband zeppelinesk einsetzt, taucht die Chefin gar nicht nochmal auf – das nenne ich mal ein Statement. Besser geht nicht.

Einziger Kritikpunkt: das mal wieder reichlich lieblose Drumherum. Alle Energie von Frau Solheim fließt seit jeher in die Musik, da bleibt leider wenig Glanz übrig für den Rest. Das Artwork ist bestenfalls okay, die restliche Optik (Bandfotos, Flyer, Verpackung, Social Media) naja, die begleitenden Videoclips sind mal wieder garnix. Schade.

Trotzdem: Musikalisch für mich schon jetzt ein heißer Anwärter auf eines meiner Alben des Jahres.

Veröffentlicht am 27. Januar 2023

Spielzeit: 47:32 Minuten

Label: Pristine Music

Homepage: www.pristine-music.com

Tracklist PRISTINE “The Lines We Cross”:

Actions, Deeds, & Suffering
Ghost With A Gun
The Loneliest Fortune Pt 1 & 2
Stepping Into The Breach
Valencia
Carnival
Sad Sack In A Cadillac
The Devil You Know
The Lines We Cross
Instant Conclusions Decade

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WUCAN: Live At Deutschlandfunk

Eine alte Rock’n’Roll-Weisheit besagt: “Keyboards und Flöten – nicht vönnöten!” Doch der Meister bricht die Form: Mit ihrem mal wuchtigen, mal genüsslich ausufernden Hardrock-Entwurf klingen WUCAN aus Dresden wie eine krautverseuchte Version der frühen JETHRO TULL, die sich in Ostberlin auf ein KLAUS-RENFT-COMBO-Konzert verlaufen hat.

“Live At Deutschlandfunk” bietet einen feinen Überblick über das Schaffen von WUCAN

In seiner zelebrierten Kauzigkeit klingt das erfrischend eigen und vor allem anders als das Gros der Retro-Rocker, das sonst gerade versucht, die 70er neu aufzulegen. Das frisch erschienene “Live At Deutschlandfunk”-Album bietet einen feinen Überblick über das bisherige Schaffen dieser ungewöhnlichen Kapelle um Sängerin, Gitarristin und Flötistin Francis Tobolsky, die in der einschlägigen und sogar in der orthodoxen Fachpresse gerade mächtig über den Klee gelobt wird. Zu Recht? Wer noch nicht im Thema ist, findet mit dieser Live-Best-Of eine Antwort und möglicherweise die passende Einstiegsdroge.

Veröffentlicht am 13. Januar 2023

Spielzeit: 1:16:44 Minuten

Label: mig-music

Homepage: www.wucan-music.de

Tracklist WUCAN: Live At Deutschlandfunk:

Kill The King 5:01
Father Storm 4:11
Looking In The Past 7:47
Zwischen Liebe Und Zorn 4:06
Don’t Break The Oath 5:04
Fette Deutsche 3:44
Aging Ten Years In Two Seconds (Excerpt) 4:11
Ebb And Flute / The Eternal Groove 6:11
The Rat Catcher 6:40
Night To Fall 4:08
Far And Beyond 6:08
Wandersmann 19:25

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BOYGENIUS: Julien Baker und der Nazi-Patch

boygenius (klein geschrieben) ist ein US-amerikanisches Indie-Trio, bestehend aus den drei Songwriterinnen Lucy Dacus, Julien Baker und Phoebe Bridgers. Am 31. März 2023 erscheint ihr mit Spannung erwartetes Debütalbum „The Record“. Das Rolling Stone Magazin widmete boygenius nicht nur seine aktuelle Titelstory, sondern jazzte die drei Damen in ebendieser mit einer beispiellosen Fangirl-Huldigung gleich auch noch zur „aufregendsten Supergroup der Welt“ hoch. Entsprechend neugierig geworden, landete ich beim neuen boygenius-Musikvideo „Not Strong Enough“ – und der alternde Metalhead in mir freute sich, dass Phoebe Bridgers darin ein schickes altes CORONER-Leibchen von der „No More Color“-Tour 1990 trägt.

Eine wie auch immer geartete Affinität zu harter Musik und der dazugehörigen Subkultur sollen die drei Damen dem Vernehmen nach ja haben – schreiben sie doch nicht nur ihre Band als Anspielung auf die Straight-Edge-Hardcore-Szene gerne mal xboygeniusx, sondern haben auch T-Shirt-Designs in stilisierter Heavy-Metal-Optik im Verkauf.

Eines der T-Shirt-Designs in stilisierter Heavy-Metal-Optik

Von Phoebe Bridgers gibt es einen nicen „Musicians on Musicians“-Deeptalk mit METALLICAs Lars Ulrich. Zudem ist die Künstlerin auf der exklusiven The Metallica Blacklist vertreten.

 

Dem boygenius-Worshipping im neuen Rolling Stone Magazin kann man unter anderem entnehmen, dass die christlich aufgewachsene Julien Baker mit der norwegischen Black-Metal-Legende MAYHEM vertraut ist.

In Interviews und in ihrem Werk geben sich die drei Damen von boygenius regelmäßig sattelfest, was die Pop- und Rockgeschichte angeht – kein Wunder, schließlich haben wir es hier mit ernstzunehmenden Künstlerinnen zu tun und nicht etwa mit einer Trulla wie dem Pop-Sternchen ZARA LARSSON. Das stöckelte kürzlich bei einer Preisverleihung in Schweden in einem kurzen Designer-Cocktailkleidchen herum, auf dem das Artwork von BURZUMs „Filosofem“-Album zitiert wurde (der Count lacht noch immer in seinem französischen Versteck). LARSSONs Kommentar: „Oopsie, ich hatte keine Ahnung. Ich fand einfach, meine Klamotten sehen cool aus.“

boygenius sind da aus einem anderen Holz geschnitzt. Man kann davon ausgehen, dass die drei meinungsstarken Musikerinnen genau wissen, was sie tun und wen sie feiern und supporten.

Umso verstörender, wenn man im selben Musikclip von „Not Strong Enough“ Julien Baker eine Leiter herabklettern sieht und der Blick frontal auf den Aufnäher fällt, den sie auf ihrer Jacke trägt. „Deutscher Schwarz Metall Untergrund“ steht da zu lesen, darüber gekreuzt ein Henkerbeil und ein Dolch oder Bajonett und der in Frakturschrift und Versalien geschriebene Bandname WEHRHAMMER. Und dabei handelt es sich nicht um irgendeine Finstercombo.

 

boygenius – Julien Baker mit dem Aufnäher der deutschen Nazi-Band WEHRHAMMER im Musikvodeo zu “Not Strong Enough”.

Dieses gleichermaßen bedeutungslose wie ärgerliche Ein-Mann-Projekt aus dem rheinischen Oberhausen ist eine NSBM-Band – und wir sprechen hier von lupenreinem Nazi Black Metal. Metal Archives sortiert das umtriebige Projekt ganz klar unter „War, Hate, National Socialism, Anti-Judeo-Christianity, Racism“ ein, was bei Albumtiteln wie „Blut und Ehre“, „Deutsche Sturmtruppen“, „Ein Reich wird kommen“ und „In Ehren Deutscher Krieger“ wenig überrascht.

Die seit 1993 aktiven WEHRHAMMER haben Kollaborationen mit anderen offen rechtsradikalen Bands wie TOTENBURG und DER STÜRMER gemacht und covern gerne mal Lieder von Gruppen wie LANDSER und STÖRKRAFT.

Songtitel wie „Nigger“, „White Power“, „Heinrich Himmler“ und „Heil Black Metal“ sprechen Klartext, der auch an einer möglichen Sprachbarriere nicht scheitern sollte.

Weitere Beiträge von WEHRHAMMER lauten etwa „Deutsches Reich“, „Arische Kämpfer“, „Herrenrasse“, „Deutsche Treue“, „Heilgruß dem deutschen Reich“, „Wenn wir die Herrscher sind“ und „Abfahrt an Gleis 8“.

Es wäre sicher mal nett gewesen, mit Phoebe Bridgers bei einem gegrillten Heilbutt an Kokosnussreis mit Yuzu-Aioli und einem frisch gepressten Orangensaft über CORONER und die Schweizer Old-School-Metal Szene zu quatschen und zu erfahren, wie sie über das „Death Cult“-Demo denkt, das seinerzeit von Tom G. Warrior eingesungen wurde; und ob auch sie im Rückblick enttäuscht war über das Gastspiel von Tommy Vetterli bei KREATOR, das sich auf dem Papier so vielversprechend angelassen hatte …

Noch interessanter wäre freilich zu wissen, was Julien Baker dazu bewogen hat, sich den Patch einer widerwärtigen deutschen Nazi-Black-Metal-Kapelle auf ihre Jacke zu nähen. Auf unsere Anfrage haben sich aber leider weder Julien Baker noch boygenius dazu geäußert.

ROLLING STONE im März 2023 – Titelthema: Boygenius

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UK SUBS, NASTY RUMOURS: Konzertbericht – Z-Bau, Nürnberg – 26.01.2023

 

Mit (fast) 80 Jahren um die Welt: Sänger und Bandkopf Charlie Harper ist jetzt stolze 78 Jahre alt – und hat angekündigt, ein letztes Mal auf große Fahrt zu gehen. Seit 1977, dem Schlüsseljahr des britischen Punkrock, war er mit seiner Truppe quasi permanent auf Tour. GUNS N’ ROSES und DIE TOTEN HOSEN haben ihre Lieder gecovert, DIE ÄRZTE, MOTÖRHEAD und BAD RELIGION luden sie auf Tour ein. Irgendwann war Harper nicht mehr nur der Chef, sondern auch die einzige Konstante in diesem nimmermüden Stromgitarrenorganismus, der sich unermüdlich durch die Jahre und Jahrzehnte fräste und rockte. Trends kamen und gingen, die UK SUBS waren immer da.

Harper ist ein Getriebener, ein ewiger Roaddog, der gar nicht anders kann als unterwegs zu sein und Konzerte zu spielen, bis zur Bewusstlosigkeit um den Erdball zu touren und den Punk-Kids das Bier wegzutrinken. „Wenn du dich ausruhst, dann kriegen sie dich“ hat Lemmy von MOTÖRHEAD mal gesagt, und dieser Devise folgt auch der Ex-Frisör aus London. Daheim sterben die Leut’, und was heißt überhaupt daheim? Auf Tour kriegt man wenigstens was zu essen, Freibier und ein Bett gestellt!

NASTY RUMOURS

So auch im Nürnberger Z-Bau. Ein Vorprogramm gibt es dort obendrein und das auch noch geschmackvoll und mit Kennerhand ausgewählt: NASTY RUMOURS aus der Schweiz eröffnen auf der kompletten „Final European Mainland“-Tour und können ihr Glück kaum fassen, mit der Legende on the road zu sein. Powerpoppig-ohrwurmiger 77er-Punkrock mit feinem Zuckerguß, der zu jeder Sekunde eine bodentiefe Verneigung vor Genrehelden wie THE BOYS, THE UNDERTONES und den BUZZCOCKS ist und nochmal eine ganz Ecke bubblegumiger als die RAMONES aus den Boxen schallt. Ich sach’ ma’ so: Keine Experimente!

NASTY-RUMOURS-Eigenkompositionen wie „Messed Up Girl“, „She’s Mental“, „You’ve Got My Number“, „Ticking Timebomb“, „I Wanna Kill Your Boyfriend“, „Modern World“, „Remember All Those Nights“ und „Get My Kicks from ’76“ punkten vom Fleck weg mit gefälligem Tempo und schicken Singalongs – ein Sound, der auf Anhieb und ohne Umschweife ins Ohr geht und die Füße zucken lässt. Dazu tragen die vier bunten Musikanten aus Bern nicht nur die richtigen T-Shirts, sondern bouncen auch wie fröhliche Flummis über die Bühne. Ein frischer, kurzweiliger Start in den Abend!

 

Fotogalerie: NASTY RUMOURS

UK SUBS

Dann UK SUBS. 1977 war das Schlüsseljahr des klassischen britischen Punkrocks, die SUBS waren schon ein Jahr vorher am Start. Übriggeblieben ist nach all der Zeit wie gesagt nur Sänger Charlie Harper, der inzwischen aussieht wie seine eigene Großmutter, mit blondierten Haaren, bunter John-Lennon-Gedächtnisbrille und gepflegtem Drei-Tage-Bart aber auch schon wieder die Schwelle zur Alters-Coolness überschritten hat. Und: Der Mann hat tatsächlich das Kunststück und einst selbstgesteckte Ziel geschafft, seine Diskografie komplett alphabetisch aufzuziehen, vom Debüt „Another Kind Of Blues“ (1979) hin zum letzten Studioalbum „Ziezo“ (2016).

Wobei zwei Dinge, die ich vorhin geschrieben habe, nicht stimmen. Harper hat sich ausgeruht, die unfreiwillige globale Auszeit hat ihm sichtlich gut getan. Der Mann ist nicht nur allerbestens aufgelegt, sondern singt auch so gut wie schon lange nicht mehr. Und: Harper trinkt den Kids in der ersten Reihe nicht mehr das Bier weg, im Gegenteil: Er versorgt sie fröhlich mit frischem Gerstensaft. Auch das fällt wohl unter Altersmilde. Überhaupt: Von Teenagern hin zu gestylten Ü60-Punks hat sich in dieser Nacht ein illustres Völkchen vor der Bühne versammelt für dieses (vorerst) letzte Gastspiel, und ab der dritten Nummer „Rockers“ tobt dann auch ein Pogopit im vorderen Bereich der Halle, übt sich Jung und Alt im fröhlich-friedlichen Rempeltanz.

Der Rest ist rifforientiertes Punkrock-Handwerk alter Schule. Handbremse lösen, Gaspedal durchdrücken und los! „Riot“, „Warhead“, „Stranglehold“, „Emotional Blackmail“, „Endangered Species“, „Down On The Farm“, „New York State Police“, „I Live In A Car“, „Party In Paris“ – die Hits hageln am Stück, das Quartett – neben Harper aktuell Langzeit-Bassist Alvin Gibbs, Gitarrist Stephen Straughan und der ganz frisch hinzu gestoßene und die Abschiedstournee trommelnde deutsche Schlagzeuger Stefan Häublein (TV Smith, Bored Teenagers) – setzt auf gepflegtes Powerplay. Und alles verschwimmt zu einem einzigen großen Fest, das viel zu schnell schon wieder vorbei ist. „Teenage – I wanna be Teenage!“ schallt es nach 75 Minuten ein letztes Mal von der Bühne, schon ist das Saallicht wieder an.

Keine zehn Minuten nach der Show sind Harper und seine Männer mit einem frischen Feierabendbierchen wieder in der Menge (wie schon vor dem Auftritt) und quatschen munter mit den Fans, und irgendwie kommt mir in diesem Augenblick der Gedanke, dass ich in Zeiten, in denen so vieles so doof geworden ist da draußen (mag mit dem Alter zusammenhängen), eigentlich auf gar keinen anderen Konzerten mehr sein möchte als auf solch wunderbaren Clubshows wie dieser – Lichtjahre weg von den anonymen Stadien, irgendwelchen Ticketing-/Dynamic-Pricing-/Golden Circle-Geschichten und dem ganzen anderen Quatsch, der in der Musikwelt gerade so vor sich geht.

Fotogalerie: UK SUBS

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SATAN, PORTRAIT, AFTER ALL: Konzertbericht – Paunchy Cats, Lichtenfels – 27.10.2022

Im Paunchy Cats, dieser gepflegten, unglaublich liebevoll eingerichteten und stilsicher inszenierten Gaststätte, lebt Inhaber Sebastian Alsdorf nicht nur seinen XXL-Hair-Metal-Traum, sondern meistert den Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einer fränkischen Kleinstadt, indem er sein Ding durchzieht, als coolster Spot am Platz nebenher aber auch das lokale Geschäft mitnimmt. Sprich: private Geburtstagspartys, wochentägliche Stammtische und Hochzeiten, die natürlich auch alle hier feiern möchte.

Wenn dann aber von Zeit zu Zeit internationale Genrekapellen zu Gast sind und live aufspielen, sind Publikum und Stimmung… nun ja, tatsächlich ein wenig so wie 1989 am Sunset Strip (zumindest in unserer Fantasie, wir waren damals ja auch nicht dabei): Die Mädels aufgestrapst, die Burschen schön mit Kajal und bunten Tüchern und überhaupt Jeans, Leder, Nieten, lustigen Warrior Names und Vintage-Bandshirts, die du – wenn überhaupt schon mal – lange nicht mehr gesehen hast. Dress to impress! Dazu alte und junge Kuttenträger oder auch Vertreter anderer Jugendkulturen von Rockabilly über Punkrock hin zu den zahlreichen Turbojugenden des Südens.

So prallen im Paunchy Cats immer wieder Welten aufeinander, es gibt schön was zu gucken und bisweilen ganz wunderbare Momente. Unvergessen, als neulich nach dem CRASHDÏET-Konzert um Mitternacht der erste Bauer im ONKELZ-Shirt im Raum steht und fassungslos auf die androgyn aufgestylten Konzertgäste starrt, die zu alten Stimmungshits von METALLICA und BON JOVI ausgelassen in die Nacht hinein tanzen.

Inzwischen verfügt der direkt am Bahnhof gelegene Mikro-Club auch über eine amtliche Minibühne mit satter PA sowie einer eigenen Imbissbude vor der Haustür. Stilistisch dem Glam-Rock/Metal-Genre verschrieben, findet hier aber auch mal Doom, Hardcore oder Horror Punk statt. Wenn das Poser-Gen stimmt, ist man stilistisch offen. All das hat sich längst auch in Musikerkreisen herumgesprochen, weshalb hier in der Diaspora schon Bands wie ANVIL, ENFORCER, LIZZY BORDEN, HARDCORE SUPERSTAR, CRASHDÏET, BLITZKID, MICHALE GRAVES, THE SKULL, COVEN, DEATHSTARS, DOG EAT DOG, DEEZ NUTS und WARRIOR SOUL und natürlich Genrehelden wie BANG TANGO, LITTLE CAESAR, DOGS D’AMOUR und die QUIREBOYS Halt gemacht und die Butze zerlegt haben.

Lichtenfels Rock City ist also immer eine Wallfahrt wert, und so gab es kein langes Zögern, als bekannt wurde, dass die NWoBHM-Helden SATAN auf ihrer laufenden Tournee einen Zwischenstopp im Paunchy einlegen.

AFTER ALL

Mit leichter Verspätung treffen Andi und ich in der Stadt ein und gehen nicht über Los, sondern direkt zu 3Fratelli am Marktplatz für eine schnelle Pizza. AFTER ALL stehen bereits auf der Bühne und der unverwüstliche Bilderbube mit der Kamera im Anschlag davor, als wir gestärkt und ready to rock am Tatort einschlagen. Die Thrasher aus dem belgischen Brügge sind scheinbar spontan als dritte Band für ein paar Dates auf das Billing gehüpft. Aber: Augenblick! Ich hatte die Kapelle, die sich seit Jahren emsig müht und einem immer wieder auf Konzerten und Festivals über den Weg läuft, als glatzköpfige und früh in die Jahre gekommene Thrash-Kapelle mit einem Faible für stylische Ed-Repka-Plattencover und schlechte Tribal-Tattoos in Erinnerung. Doch was da im Paunchy auf der Bühne steht, ist (zur Hälfte immer noch glatzköpfiger) US-Metal mit einer bemerkenswerten Prog-Kante, bei dem die Thrash-Wurzeln wenn überhaupt nur noch rudimentär durchschimmern. Mit Mike Slembrouck haben AFTER ALL einen neuen Frontmann an Bord, der optisch an den jungen Mike Howe (METAL CHURCH) und stimmlich an LETHAL und die frühen QUEENSRŸCHE erinnert. Leider hat der Schnuckel überhaupt nichts zu sagen, seine Ansagen bleiben metal-typisch hohl und nichtssagend.

Das dargebotene Liedgut ist gleichwohl ohne Tadel: Unaufdringliche aber ausgecheckte Kompositionen, die immer wieder ihre Momente haben, vor allem die erwähnte leichte Thrash-Schlagseite fügt sich prima ein. Dass AFTER ALL eines der hässlichsten Bandlogos der Szene führen, sei an dieser Stelle fürs Protokoll vermerkt. Freundlicher Achtungsapplaus für die Belgier, für die die Tour mit diesem Auftritt auch schon wieder vorbei ist.

Fotogalerie: AFTER ALL

PORTRAIT

Dann wird es orthodox: PORTRAIT aus Schweden entern die Bühne in Leder, Nieten und Patronen, erinnern optisch an “SPINAL TAP gehen mit THE DARKNESS in den lokalen Lederclub” … und legen unverblümt los mit einem flotten, traditionsbewussten Mix aus JUDAS PRIEST, MERCYFUL FATE und den frühen MANOWAR, der aber auch mal mit einem halben Discobeat oder einer kurzen Blastpart-Einlage aufgelockert wird.

Leider gilt wie schon bei AFTER ALL: Einstudierte Posen, hilflose Ansagen, viel Unsicherheit. Sänger und Frontmann Per Karlsson hat dem inzwischen auf 50, 60 Nasen angewachsenen Publikum nichts zu sagen, lieber fummelt er minutenlang an seinem In-Ear-Sender herum, der scheinbar nicht so tut wie er soll. Naja. Musikalisch ist das alles recht unterhaltsam und kurzweilig arrangiert, wenngleich ich auch hier keinen einzigen Hit höre, der mich nach der Show mit dem Geldbeutel in der Hand willenlos zur üppigen Merchtafel im hinteren Teil des Etablissements getrieben hätte. Dann lieber noch ein schnelles Bier und wieder vor der Bühne eingecheckt, die inzwischen ein simples aber effektives SATAN-Backdrop ziert. Das sorgt auch prompt für Gesprächstoff unter den Bangern, von wegen “dafür, dass die Band so früh mit ihrem Bandnamen haderte, gibt es gleich zwei großartige SATAN-Bandlogos”.

Fotogalerie: PORTRAIT

SATAN

Mit den ersten Takten von SATAN ist dann auch sogleich alles vergessen, was bislang an diesem Abend passiert ist. Was nun kommt, ist eine andere Liga – und eine andere Zeit. Die Briten treten in der Originalbesetzung ihres Klassikers “Court In The Act” aus dem Jahr 1983 an – und präsentieren sich vorzüglich gealtert, fast wie frisch aus der Zeitmaschine gepurzelt, über die Sänger Brian Ross so einiges zu erzählen hat (geht scheinbar viel um Zeitreisen bei SATAN, zudem ist der Mann ein großer Doctor-Who-Fan).

Optisch gut gealtert, ist es vor allem der Sound, der wunderbar old school ist und trotzdem schnittig und modern klingt. Ross ist nicht nur noch immer gut bei (markanter) Stimme, sondern ein Unterhalter der alten Schule. Wo die Vorgruppen nicht über ein “Seid Ihr alle da?” hinauskamen, parliert der Brite – eine schrullige Mischung aus Alice Cooper, Zauberer Gargamel und dem legendären Nürnberger Kozertveranstalter Peter Harasim – locker vom Hocker und weiß zu jedem Lied etwas zu erzählen. Unglaublich auch, wie er mitten in einem Song gedankenverloren ein Bonbon aus der Hosentasche fischt und eine halbe Ewigkeit lang das Papier nicht runterkriegt, während links und rechts von ihm Steve Ramsey und der ewig junge Russ Tippins Köpfe und Haare fliegen lassen und sich munter ins Nirwana solieren – fast schon ein Loriot-Moment!

Mit dem fantastischen Intro “Into The Fire” sowie dem “Court In The Act”-Doppelschlag “Trial By Fire” und “Blades Of Steel” gerät der Einstieg nachgerade legendär. Dennoch wird der Abend keine Nostalgiereise. Nach dem vorzüglichen Debütalbum verloren SATAN bekanntlich schnell ihren Weg, der Nachfolger “Suspended Sentence” sowie die EP “Into the Future” (beide 1987 erschienen, von denen es an diesem Abend aber nix zu hören gibt) waren beide recht enttäuschend. Die Band traf daraufhin einen Haufen bedauerlicher Business-Entscheidungen… und startete erst im neuen Jahrtausend neu und so richtig durch. Seit der Reunion 2011 erschienen drei Langspieler und ein Live-Album, die alle frisch und mächtig klingen.

Was ein rundes, launiges Konzert! Zwar hätte nicht nur ich mich über einen Prä-“Court In The Act”-Song wie “Kiss Of Death” gefreut, aber: geschenkt. Auch diese Nacht im Paunchy Cats war wieder eine rundum wunderbare, die ich nirgendwo anders hätte verbringen wollen und für die ich nach der Pandemie noch viel dankbarer bin als davor.

Fotogalerie: SATAN

Fotos: Bilderbube (https://www.instagram.com/bilderbube.de/)

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BLOODSUCKING ZOMBIES FROM OUTER SPACE: Decades Of Decay II

Bei diesen Buben ist nicht nur einmal im Jahr Halloween: Seit 20 Jahren beackern und feiern die BLOODSUCKING ZOMBIES FROM OUTER SPACE aus Wien die Themenfelder Horrorfilme, True Crime und Massenmörder-Kult – und packen musikalisch mit viel Humor und ordentlich Schmäh auf den morbiden Horrorpunk-Sound der Misfits eine satte Schippe melodiesatten Rockabilly/Psychobilly. Eine feine Kapelle, mit der wir in der Vergangenheit schon sehr viel Spaß hatten!

“Decade of Decay – Gravest Hits”: 22 Gassenhauer auf einmal

Zehn Jahre nach der ersten Werkschau “Decade of Decay – Gravest Hits” erscheint mit “Decades Of Decay II” nun ein zweites Best Of-Album, das erneut einen schönen Karriereüberblick gewährt. Scheinbar sind auch bei den BZFOS die Hits längst geschrieben, denn die Tracklists der beiden Scheiben sind über weite Strecken erstaunlich deckungsgleich. Doch wer nicht die komplette Diskographie der Schock Rocker aus der Mozartstadt im Schrank stehen hat (braucht man ja auch nicht), findet hier die größten Gassenhauer geschmeidig gebündelt: 22 Nummern, von frühen Perlen wie “Moonlight Sonata”, “Eaters Of The Dead”, “Bucket Of Blood” und “Monster Mutant Boogie” über jüngere Beiträge wie “Bela Kiss” und das mit einer endschicken 80er-Kante versehene “Night Flier” hin zu Publikumsfaves wie “Horrormovie Addict” und “Plainfield Love”.

Leider verzichten die Ösi-Ghouls auf einen Song in ihrer Muttersprache

Schade, dass es keine Dialektnummer auf das Album geschafft hat – die Wiener Zunge der beiden “Mörder Blues”-Platten passte nachgerade wunderbar zum schaurig-schönen Friedhofssound der Ösi-Ghouls. Im Gegenzug wurde jedoch dankbarerweise auf die einschlägigen Coverversionen verzichtet, die die Live-Rituale der Buben (bedauernswerte Entscheidung btw auch, dass Sänger Dead Richy Gein nicht mehr Bela-B.-like als singender Schlagzeuger antritt, sondern inzwischen nur noch den Frontkasper gibt) zuletzt mitunter zu argen Jukebox-Stimmungshits-Veranstaltungen geraten ließen.

Wer noch nix von den BZFOS daheim hat, wird mit dieser Kompilation bestens bedient – zumal viele der alten Scheiben der Zombies eh längst vergriffen sind.

VÖ: 28. Oktober 2022

Label: Schlitzer-Pepi Records/SBÄM Records

 

BLOODSUCKING ZOMBIES FROM OUTER SPACE: Decades Of Decay II

01 Radio Active 3:40
02 Werewolf in a Girl´s Dormitory 3:23
03 Bela Kiss 3:35
04 This ain´t no Halloween Costume 2:52
05 Nice Day for an Exorcism 3:19
06 Blood on Satan´s Claw 4:06
07 Monster Mutant Boogie 3:45
08 Night Flier 3:30
09 Bucket of Blood 3:12
10 Cannibal Holocaust Unplugged 3:32
11 The Head of your Mother 3:00
12 Stop writing Songs about your Girlfriend 3:15
13 Moonight Sonata 2:40
14 Eaters of the Dead 2:13
15 Trick or Treat 2:52
16 Plainfield Love 2:58
17 I wanna hear you scream 3:18
18 Off with their heads 2:42
19 Mr Barlow 2:58
20 Horrormovie Addict 3:03
21 Reign of Devils 3:10
22 Rainy Season 3:32

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COUNTERPARTS: A Eulogy For Those Still Here

Wir hätten nicht gedacht, so früh zu den Taschentüchern greifen zu müssen. Doch die schonungslose Offenheit, mit der Sänger Brendan Murphy im eröffnenden „Whispers Of Your Death“ sein Herz ausschüttet, erwischt uns völlig unvorbereitet. Gewidmet seinem an FIV erkrankten und mittlerweile verstorbenen Kater Kuma fasst der Frontmann auf entwaffnende Weise in Worte, was wohl alle Katzenbesitzer:innen für ihre vierbeinigen Mitbewohner fühlen. Wir wischen uns tatsächlich eine kleine Träne weg, bevor wir die Platte kurz pausieren, um unsere eigene alte Katzenlady im 18. Lebensjahr in den Arm zu nehmen.

So haben wir uns den Start in „A Eulogy For Those Still Here“ nicht vorgestellt, die Botschaft aber kommt an: Die gemeinsame Zeit ist kurz und daher viel zu kostbar, um nicht jeden Moment zusammen zu genießen. Diese Emotionalität liegt allen Stücken der Platte zugrunde, obschon die Band in einer guten halben Stunde das volle Gefühlsspektrum erkundet. Verbittert und enttäuscht zeigt sich „Unwavering Vow“, das seine treibenden Strophen und die melodische Gitarrenführung in einem erdrückenden Finale erstickt.

Nach dem frühen emotionalen Höhepunkt halten COUNTERPARTS das Energielevel weiterhin am Anschlag

Zwischen und Melodic Hard- und Metalcore finden COUNTERPARTS auf diese Weise die richtige Balance, indem sie der Aggression von Murphys Screams in „Bound To The Burn“ tragende Gitarrenleads zur Seite stellen oder im Titeltrack die anfängliche Urgewalt gegen eine zurückgenommene zweite Hälfte tauschen, welche neben einer intensiven Eruption auch etwas Shoegaze-Anleihen einzustreuen vermag. Die ruhigen Passagen auf „A Eulogy For Those Still Here“ erfüllen also ihren Zweck allein deshalb schon, weil sie den benötigten Raum schaffen, welcher die furiosen Ausbrüche umso härter landen lässt.

Aber auch für sich genommen legt das introspektive „Skin Beneath A Scar“ die richtigen Hebel um, nicht allein aufgrund des distanzierten Klargesangs, sondern vielmehr der nachdenklichen Atmosphäre wegen. Der Intensität des Albums schaden diese Ausflüge keineswegs: Mit „What Mirrors Might Reflect“, „Sworn To Silence“ oder dem dezent an THE GHOST INSIDE erinnernden „Flesh To Fill Your Wounds“ halten COUNTERPARTS selbst in der zweiten Hälfte das Energielevel am Anschlag, wenngleich der emotionale Höhepunkt des Auftakts im weiteren Verlauf nicht mehr erreicht wird.

“A Eulogy For Those Still Here” legt persönliche Wunden bereitwillig offen

Letzten Endes wollen wir das jedoch keineswegs als Makel betrachten. Denn dass das musikalische Denkmal Kumas aus einer emotionalen Ausnahmesituation geboren ist, verhilft dem Stück naturgemäß zu einer Sonderstellung auf „A Eulogy For Those Still Here“, das keinerlei Hehl aus der ihm zugrunde liegende Menschlichkeit macht, sondern die persönlichen Wunden bereitwillig offenlegt. Die Trauer Brendan Murphys um seinen Kater ist in dieser Hinsicht der wohl ehrlichste Ausdruck hierfür.

Veröffentlichungstermin: 7.10.2022

Spielzeit: 33:46

Line-Up

Brendan Murphy –Vocals
Alex Re – Gitarre, Vocals
Jesse Doreen – Gitarre
Tyler Williams – Bass, Backing Vocals
Kyle Brownlee – Drums, Percussion

Produziert von Will Putney

Label: Pure Noise Records

Homepage: https://counterparts905.com/
Facebook: https://www.facebook.com/counterpartsband/

COUNTERPARTS “A Eulogy For Those Still Here” Tracklist

1. 07/26/2020
2. Whispers Of Your Death (Video bei YouTube)
3. Bound To The Burn
4. Unwavering Vow (Video bei YouTube)
5. A Eulogy For Those Still Here
6. Skin Beneath A Scar
7. Sworn To Silence
8. What Mirrors Might Reflect
9. Soil II
10. Flesh To Fill Your Wounds
11. A Mass Grave Of Saints

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UDO DIRKSCHNEIDER: Ich muß raus – auf die Bühne!

Udo, was war denn die Intention hinter Deiner Solo-Platte “My Way”?

Die Idee? Ach, Kinders – Coversongs sind ja immer so eine Sache, da hab ich mich nie wirklich rangetraut. Als wir dann coronabedingt mehr Zeit hatten, kam die Idee auf, einfach mal ein paar Sachen auszuprobieren. Ich hab mir dann zwei, drei Songs rausgesucht und mit denen ausprobiert, ob das überhaupt passt und geht. Mir war wichtig, daß ich nicht irgendwen kopiere, sondern da schon meinen eigenen Stempel drauf drücke. Mit den Test-Nummern hat das ganz gut funktioniert. Daraufhin habe ich eine Liste von Liedern rausgesucht, die ich in den 70ern und 80ern gut fand und die gut zu mir passen, auch von der Stimme her. Und dann haben wir direkt losgelegt und das nach und nach fertiggemacht.

Wer ist “wir”?

Stefan Kaufmann hat die Gitarren eingespielt, Peter Baltes den Bass. Die Gitarristen von der aktuellen U.D.O.-Band haben Soli beigesteuert. Mein Sohn hat Schlagzeug gespielt. Nicht vergessen darf man Peter Koobs, der sehr viel arrangiert hat. Der war Gitarrist bei HELENE FISCHER und spielt jetzt in der Band von HOWARD CARPENDALE, aber in den Tiefen seines Herzens ist er Heavy Metaller. Manuela Bibert hat die Chorstimmen gesungen.

Manuela Bibert von dem DIRKSCHNEIDER & THE OLD GANG-Projekt?

Ja, genau. Es war eine Gemeinschaftsarbeit. Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden. Wir haben die Lieder zum Teil umarrangiert und heavy gemacht – U.D.O.-Style! Ein Song ist mir wichtig: “Kein Zurück” von WOLFSHEIM. Da habe ich zum allerersten Mal deutsch gesungen. Ich hab den Song aber auch deshalb ausgewählt, weil der Text im Grunde auch meine Karriere widerspiegelt: Gute Zeiten, schlechte Zeiten… und dass man nicht zurückgucken soll. Auch Textzeilen wie “Hätt ich lieber nie geseh’n”: Auch ich habe Sachen gesehen, die ich besser nicht gesehen hätte.

Wie war es für Dich, auf Deutsch zu singen?

Gar nicht so einfach. Auch wenn es die Muttersprache ist – das richtig rüberzubringen, das ist schon anders beim Singen. Aber: Hat funktioniert. Im Vergleich mit dem Original ist unsere Version richtig heavy und geht schon fast in die RAMMSTEIN-Richtung. Dass da jetzt gesanglich eine unheimliche Bandbreite auf dem Album ist, macht es für mich natürlich interessant: sich zu fragen “na, krieg ich das hin?” und es dann tatsächlich hinzukriegen. Für weitere U.D.O.-Alben brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Wenn künftig mal was Extremes ansteht, weiß ich: Das kriege ich hin.

Die WOLFSHEIM-Nummer ist die einzige, die Deutsch ist, aber sie ist auch die jüngste Nummer auf dem Album. Der Rest stammt aus den 70ern und 80ern.

2002 hab ich die im Radio gehört – und fand auf Anhieb den Text interessant. Als ich die Nummer dann für das Coveralbum vorgeschlagen habe, hieß es erstmal “Oh weh, jetzt will er auch noch auf Deutsch singen”. Aber ich so: “Laßt mich doch mal probieren…”

Was ich sagen wollte: Ich hätte mir mehr jüngere Nummern gewünscht.

Gut, das Album reflektiert natürlich auch die Musik, mit der ich groß geworden bin – die mich begleitet hat. “The Faith Healer” von ALEX HARVEY zum Beispiel: Früher in den Rockdiscos lief das bei uns rauf und runter. Schon damals bei ACCEPT wollten wir den Song immer schon mal covern. Oder “Notbush City Limits”: Damit haben wir uns bei ACCEPT beim Proben immer warmgespielt. Ein paar Sachen auf dem Album sind sehr bekannt, “TNT” von AC/DC und “Hellraiser” von THE SWEET, aber dann sind da eben auch Sachen, die nicht so populär waren. Wichtig war mir, nicht “Smoke On The Water” und “Highway To Hell” zu machen. Ich hab mir schon Sachen rausgesucht, die vor allem für mich eine Bedeutung haben.

“Sympathy” zum Beispiel, von URIAH HEEP – vom 77er-Album “Firefly”.

Ja! Die Nummer fand ich schon immer stark. Hier hat übrigens mein alter Gitarrist Matthias Dieth alle Gitarren gespielt (lacht). Ich würde das Ganze mal als ein sehr persönliches Album sehen. So gesehen habe ich mir die Platte selbst zu meinem 70. Geburtstag geschenkt. Wobei ich denke, dass ich nach über 40 Jahren in diesem Geschäft keinem mehr irgendetwas beweisen muss. Ich mach’ Sachen, die mir Spaß machen.

“Fire” von THE CRAZY WORLD OF ARTHUR BROWN hat mich auch gefreut. Bruce Dickinson und Ian Gillan werden ja nicht müde, das hohe Lied auf diesen ominösen Zausel zu singen, und Tatsache: Ich hab den vor vielleicht 15 Jahren mal live gesehen, und das war hammergut – wie er von hinten durch den Saal und das Publikum Richtung Bühne schritt, wie ein Waldschrat …

… mit diesem brennenden Ding oben auf dem Kopf! Boah, das war schon was. Ja, das war auch so eine Nummer, die damals ständig lief. “Fire” war lange unser Song, bevor wir auf die Bühne gegangen sind.

Die großen AC/DC sind mit “TNT” vertreten. Zu den Australiern hast Du ja eh ein spezielles Verhältnis.

Jupp. ACCEPTs “I’m A Rebel” wurde ursprünglich für AC/DC geschrieben – von George Alexander, der bei den EASYBEATS war. Die Nummer gab es von AC/DC sogar als 8-Spur-Demo, das haben wir mal recherchiert.

Der Legende zufolge wurde “I’m A Rebel” in der Nacht des 15. September 1976 nach einer AC/DC-Show nachts im Tonstudio Maschen aufgezeichnet: in jenem niedersächsischen Keller, aus dem einst die deutschen Country-Cowboys TRUCKSTOP gekrochen sind. Bon Scott soll jedoch schlimm betrunken gewesen sein, weshalb AC/DC die Aufnahme nie veröffentlicht haben.

Vor allem muss man festhalten, dass die Version von AC/DC wesentlich langsamer war. Wir haben da dann eine halbe Punknummer draus gemacht. (überlegt) Ich erinnere mich, beim ersten ACCEPT-Album: Da kamen zwei Leute ins Studio, die ein wenig zugehört haben und dann wieder verschwunden sind. Als wir dann fragten, wer das denn gewesen ist, hieß es: Harry Vanda und George Young, die schon damals mit AC/DC zusammengearbeitet haben. “Nee”, meinten wir – “mit denen möchten wir nicht zusammenarbeiten” (lacht). Ob das ein Fehler war? Ach, wer weiß das schon.

Punk war kein Thema fürs Coveralbum? Zumindest bei den frühen ACCEPT steckt immer auch ein Schuss Punk drin, ich denke an “Son of A Bitch” und besagtes “I’m A Rebel”.

Doch, da hatten wir eine Nummer: “I’m Down” von den BEATLES – meine allererste Single. Da hatten wir eine hammermäßige Version draus gestrickt, die sehr punkig geworden ist. Leider hat uns EMI die nicht freigeben.

Wie: “nicht freigegeben”? Kann man das nicht einfach covern?

Nee. Sobald du am Arrangement eine Veränderung vornimmst, und wenn die noch so unwesentlich ist, musst du fragen. Und dann können die das jederzeit ablehnen. Wo ich nicht hätte fragen müssen, war “Man On A Silver Mountain”, das ist ja quasi wie das Original. Aber: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Wir haben es trotzdem getan und alle angefragt. Was sie mir auch abgelehnt haben, war “Don’t Let Me Be Missunderstood”.

Mit “Notbush City Limits” hat es eine Nummer von TINA TURNER auf Dein Album geschafft. Gab es noch mehr Ideen für Lieder, die im Original von Frauen gesungen werden?

(überlegt) Ja, ich hatte LEE AARON noch auf dem Zettel. Die fand ich immer gut. Hat sich aber nicht ergeben.

Dein Sohn Sven trommelt seit 2015 für Dich. Wie macht sich der Bub denn so im elterlichen Betrieb?

Hervorragend. Auf dem letzten U.D.O.-Album habe ich ganz intensiv mit ihm zusammengearbeitet, wir haben Texte zusammen geschrieben und er kam auch mit Melodien an, was für mich sehr interessant war. In der Band ist er inzwischen sowas wie das Mädchen für alles. Das ist gar nicht mal unbedingt ein Vater-Sohn-Verhältnis, sondern eher freundschaftlich.

Wird er die Firma mal übernehmen?

Haha! Keine Ahnung. Aber er kann sogar ganz hervorragend singen, da war ich auch sehr erstaunt. Gut, ich werd’ jetzt 70 und hab bei U.D.O. gerade eine ganz junge Band um mich herum. Wie lange ich überhaupt noch rumtoben werde – keine Ahnung. Es gibt keinen Plan. Zuletzt während Corona war mir ganz furchtbar langweilig.

Okay.

Da dachte ich mir schon: Vielleicht ist das so, wenn du komplett in Rente gehst. Aber das ist nix für mich, ich muß raus – auf die Bühne! Das hat mir wirklich gefehlt. Aber gut, so haben wir ein bisschen mehr Studioarbeit gemacht und ein paar Sachen, die man sonst vielleicht nicht gemacht hat. Jetzt aber warten wir händeringend darauf, dass es endlich wieder losgeht – raus auf Tour! (Das Gespräch fand vor dem russischen Überfall auf die Ukraine statt, sonst hätten wir an dieser Stelle schon noch nachgehakt).

Du hast ein Coveralbum gemacht. Verfolgst Du anders rum, wenn wer was von ACCEPT covert?

So richtig verfolgen nicht wirklich. Unheimlich oft gecovert wurde “Fast As A Shark”. Von “Balls” hab ich schon ganz schreckliche Versionen gehört, wo ich mir gedacht habe: “Aber das muss man doch so nicht tun…”

Du sprichst aber gerade nicht von dem wunderbaren PUSCIFER-Cover von “Balls To The Wall”?

Du, wenn das ganz anders gemacht ist, kann das klar auch gut sein. Irgendeine amerikanische Band kam mal mit einer Country-Version von “Metal Heart” an – ich fand das einfach nur genial. Bei sowas müssen dann aber alle Urheber zustimmen, und Stefan Kaufmann und ich waren die einzigen, die gesagt haben “na klar, das machen wir!”. Aus Amerika kam dann aber leider ein Nein.

A propos Amerika: Mit ex-ACCEPT-Bassist Peter Baltes bist Du jetzt wieder dicke. Wie kam das?

Mit Peter hatte ich nie ein Problem. Klar, wir hatten nicht viel Kontakt – er lebt in Amerika, war viel mit ACCEPT unterwegs. Man hat mal telefoniert, aber ich hab nicht wirklich den Kontakt gesucht. Und dann… ja, wie war das denn?

Die Bundeswehrnummer? (2020 nahm U.D.O. das Album “We Are One” mit dem Musikkorps der Bundeswehr auf)

Die Bundeswehrnummer, genau! Ich komm ins Studio, wo ich ein paar Demosachen einsingen sollte, damit die weiter arrangieren können und dann komm ich da rein und da steht Peter Baltes. Und ich so: “Was machst Du denn hier?”. Er hat an ein paar Solosachen gearbeitet und zudem seine Mutter besucht, die noch in Solingen wohnt. So sind wir ins Gespräch gekommen, haben über Tod und Teufel gequatscht. Er hat mir auch erzählt, warum er bei ACCEPT raus ist – worüber ich nicht eben verwundert war, aber das soll er selbst erzählen. Auf jeden Fall meinte er dann, er hätte da auch ein paar Ideen – und ich antworte ihm, daß ich der Letzte bin, der sagt “Ich will keine Ideen von Dir haben”. So kam es, daß er an dem Orchesteralbum mitgearbeitet hat. Diese DIRKSCHNEIDER & THE OLD GANG-EP war dann ja eigentlich nur so ein Charity-Ding, das wir gemacht haben. “Where The Angels Fly” war ursprünglich für das Orchesteralbum gedacht, aber da war kein Platz mehr. Also haben wir das so rausgebracht, und die Nummer ging ab wie die Feuerwehr. Also haben wir noch zwei weitere Nummern gemacht, und das komplette Geld ging dann an Band und Crew, die gerade nix zu tun hatten.

Die DATOG-EP war in der Tat sehr nice. Kommt da noch mehr?

Ich würde mal nicht “Nein” sagen. Vielleicht machen wir noch mal ein ganzes Album, in dieser Besetzung …

Ich fand’s schön, daß die EP anders war als das, was Du mit U.D.O. machst.

Ja, da steckt alles drin. Das Tolle bei dieser Geschichte war: Es gab keinen Stress, es gab keinen Druck, man musste nicht irgendwo hin. Einfach machen! Das war eine tolle Freiheit.

Super auch, daß Peter singt. Ich mochte seine Stimme immer, gerade auch im direkten Kontrast zu Deiner.

Er fragt, ob ich was dagegen habe, wenn er auch singt. Warum sollte ich? Das haben wir ja früher bei ACCEPT schon gemacht. Und das hier war ja kein U.D.O.-Album, sondern ein ganz eigenes Ding, komplett frei von allen Zwängen. Da passte alles zusammen.

Eine Frage noch zu ACCEPT: Man will ja als Fan immer, dass alles gut ist und die Helden sich lieb haben. Aber mit Euch war das immer ein wenig schwierig. Als ich nach Jahren endlich die Chance hatte, Euch zum ersten Mal live zu sehen, stand Wolf Hoffmann ohne Scheiß als einziger Gitarrist auf der Bühne…

Oh ja, um Gottes Willen.

Ich verstehe ja nix von Musik, aber dass ACCEPT zwei Gitarren brauchen, das weiß sogar ich. 2019 hat Wolf Hoffmann bei ACCEPT auf drei(!) Gitarristen aufgestockt. Ich will es echt nur verstehen, Udo…

Besagte “Objection Overruled”-Tour 1993 mussten wir gezwungenermaßen mit Wolf alleine an der Gitarre spielen, weil der andere Gitarrist irgendeinen Vertrag unterschrieben hatte, aufgrund dessen ihm ein Anwalt verbot, mit uns auf Tour zu gehen – Höllentheater. Da waren aber noch drei Wochen bis Tourstart. Also haben wir alles auf vier Mann umgestrickt, was irgendwo auch funktioniert hat, aber es war halt nicht ACCEPT. Dann kam das “Deathrow”-Album. Stefan Kaufmann kriegt gesundheitliche Probleme und konnte kein Schlagzeug mehr spielen, wir wussten aber alle, daß er auch ein hervorragender Gitarrist ist. Also war doch eigentlich klar: Stefan an die zweite Gitarre und wir suchen uns einen anderen Schlagzeuger. Aber da wollte der Herr Hoffmann dann künftig nur noch mit einer Gitarre spielen. “Wolf”, sagte ich, “das ist grundverkehrt”. Aber er wollte eh auf ganz modern machen – es waren ja die 90er, und er so mit kurzer Hose und Holzfällerhemd. Und ich nur so: “Kinners, da hat doch mit ACCEPT nichts mehr zu tun!”. Und was ist passiert? Es ist in die Hose gegangen! Ich fand das grausam. Gute Songs auf dem “Deathrow”-Album, aber alles so betont auf die Zeit gestrickt und angepasst. Mit U.D.O. hab ich sowas nie gemacht, da war mir immer egal, was gerade angesagt war. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich schon auf die “Objection Overruled”-Tour Matthias Dieth mitgenommen.

Eben. Der hätte sich das Programm in drei Wochen doch lockerst draufgeschafft.

Klar hätte der das alles aus dem FF spielen können. Aber: Anderes Thema. Das wird irgendwann alles mal in meinem Buch stehen (strahlt)

Oh, es gibt ein Buch?

Jawohl! Die ersten hundert Seiten hab ich zusammen. Ich schreib das einfach alles runter und will das dann mit irgendwem gemeinsam in die richtige Form bringen.

Deine Stimme klingt immer noch großartig. Dabei hätte man schon in den 80ern gewettet, dass die eher früher als später kaputt ist. Wie machst Du das?

Ich mache nichts. Wirklich gar nichts. Ich wärme mich vor den Shows nicht mal auf – ich geh einfach raus und singe. Im Studio desselbe. Als wir 2021 das U.D.O.-Album “Game Over” aufgenommen haben, meinte der Stefan (Kaufmann) zu mir: “Das ist ein Phänomen. Du kommst wieder genau so hoch wie damals zu ‘Breaker’-Zeiten. Du hattest mal ‘ne Zeit, da war das nicht so, aber gerade wieder …” Auch für mich selbst ist das unvorstellbar. Singen strengt mich aber auch nicht an oder so. Fünf, sechs Shows hintereinander – kein Problem. Ich kenne Sangeskollegen, bei denen das ganz und gar nicht so ist. Mit dem Orchesteralbum, DATOG und jetzt dem Coveralbum konnte ich zuletzt viel ausprobieren. Und hab’ gemerkt, dass ich da noch viel mehr machen und auch viel variieren kann mit meiner Stimme. Ich kann heute in tiefen Lagen singen, da wäre ich früher gar nicht runtergekommen. Ist schon irre. Keine Ahnung … ich bin froh, daß es so ist. (klopft auf Holz)

Du meintest vorhin mit Blick auf die WOLFSHEIM-Nummer, die Du gecovert hast, etwas von schlechten Zeiten. Davon habe ich ehrlich gesagt nix mitgekriegt. Hier kommt meine Außensicht auf Deinen Lebensweg: Ein Mann baut sich eine Weltkarriere mit ACCEPT auf, wird von seiner eigenen Band mehr oder minder elegant ausgebootet, baut sich daraufhin eine Solokarriere auf, schiebt diese für die große Reunion auf Eis… und als ACCEPT ein zweites Mal scheitern, kehrt er erneut mit U.D.O. zurück und macht weiter sein Ding. Chapeau – alles richtig gemacht, tät ich sagen! Wo sind da die schweren Zeiten? Ich sehe keine Abstürze, ich sehe keine Brüche.

Die zweite Runde mit U.D.O. war am Anfang nicht einfach. Als die ACCEPT-Reunion am Ende war, reagierten die Leute verhalten. Viele dachten, jetzt macht der Dirkschneider nochmal ein Solo-Album, und dann geht das eh weiter mit ACCEPT. “Solid”, das erste neue U.D.O.-Album damals, das war schon Hardcore und Faust-in-der-Tasche. Wir mussten kämpfen und uns immer wieder sagen “das ziehen wir jetzt durch”.

 

Du musstest 1997 echt wieder bei Null anfangen?

Ziemlich tief unten, ja. Da waren auch Konzerte dabei, da kamen gerade mal 120 Leute. Da kommt man schon ins Nachdenken. Aber wir haben uns damals gesagt “Nee, wir ziehen das jetzt richtig durch”. Das große Glück war, dass ich 1997 zum ersten Mal nach Russland gegangen bin. Ich weiß gar nicht, wieviel Shows das waren. Einmal durch die komplette Nation. Ich war anfangs skeptisch, aber dann sind wir da rüber – und die Hölle ist losgebrochen. U.D.O. und Russland, das hat uns wieder richtig aufgebaut damals. Plötzlich wussten wir wieder: Es funktioniert! Skandianvien lief dann plötzlich wieder gut, dazu Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, die baltischen Staaten. Nur Deutschland hat sich am Anfang schwer getan. Aber wir haben es durchgezogen und einfach immer weitergemacht. Und: Wir sind immer noch da! (lacht)

INTERVIEW: STEFAN GNAD

UDO DIRKSCHNEIDER – Kein Zurück – Official Music Video

We Will Rock You (Udo Dirkschneider Version) – Official Music Video

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DEUTSCHE ALBUMCHARTS: mit DEF LEPPARD, CREMATORY, MICHAEL SCHENKER GROUP

Dass DIE TOTEN HOSEN ihr 40-jähriges Jubiläum an der Spitze der Charts feiern würden, überrascht wohl niemanden so richtig: “Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen” ist eine umfangreiche Best-of-Compilation und diese Woche natürlich an der Spitze der Charts. DEF LEPPARD stellen mit “Diamond Star Halos” dagegen erst ihr drittes Top-10-Album der Bandgeschichte. Der selbstbetitelte Vorgänger “Def Leppard” (2015) landete seinerzeit auf der Zehn. Nicht ganz für die oberste Riege gereicht hat es dagegen für MICHAEL SCHENKER GROUP: Nummer 13 für “Universal” ist immer noch ein gutes Resultat, allerdings schaffte es “Immortal” zum 50-jährigen Jubiläum des namengebenden Musiker im Jahr 2021 noch auf Platz acht.

Einen persönlichen Rekord fahren dafür CREMATORY ein, deren neue Platte “Inglorious Darkness” auf Position 17 einsteigt und damit im Vergleich zu “Unbroken” (2020, #44) ein ganzes Stück zulegt. In der zweiten Hälfte der Charts finden wir neben den üblichen Wiedereinstiegen verschiedener Klassiker auch das RUNNING WILD-Live-Album “Ready For Boarding” (1988), das es als Neuauflage erstmals in die Top 100 geschafft hat. Auch für DECAPITATED ist es mit “Cancer Culture” der erste Aufenthalt in den deutschen Albumcharts: Rang 96 für das neue Album der Death-Metal-Band.

Der Ausblick auf kommende Woche

Der Juni startet mit einer ganzen Ladung Neuveröffentlichung, die vor allem Anhänger moderner Spielarten glücklich machen dürfte: KILLSWITCH ENGAGE haben das Live-Album “Live At The Palladium” herausgebracht, BLEED FROM WITHIN legen mit “Shrine” einen Metalcore-Kracher vor, von MEMPHIS MAY FIRE gibt es mit “Remade In Misery” Futter für die Zielgruppe und auch THORNHILL (“Heroine”) und THE OKLAHOMA KID (“Tangerine Tragic”) buhlen um eine ähnliche Hörerschaft. Prog und Shoegaze gibt es derweil von ASTRONOID auf deren Drittwerk “Radiant Bloom“, während die Heavy / Folk Metal-Band BATTLELORE ihr tolkien-inspiriertes Comeback-Album “The Return of The Shadow” vorlegt. Ebenfalls neu im Handel: “The New Dark Ages” von GWAR, “Summoning The Slayer” von TEMPLE OF VOID, “Chaosmos” von ORIGIN, “Artificial Brain” von ARTIFICIAL BRAIN, “The Matter, Form And Power” von MY DILIGENCE und “Shadow Work” von DRUIDS.

Die Neueinstiege vom 3. Juni 2022

Top 20
01. DIE TOTEN HOSEN: “Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen”
08. DEF LEPPARD: “Diamond Star Halos”
13. MICHAEL SCHENKER GROUP: “Universal”
17. CREMATORY: “Inglorious Darkness”

Top 40
36. GOV’T MULE: “Stoned Side Of The Mule, Vol. 1&2” (WE)

Top 50 und weitere
43. RAMMSTEIN: “Sehnsucht” (WE)
49. V.E.R.S.U.S: “Perversus”
51. SEX PISTOLS: “The Original Recordings”
54. RUNNING WILD: “Ready For Boarding”
64. DEPECHE MODE: “The Best of – Volume 1” (WE)
68. VENUS PRINCIPLE: “Stand In Your Light”
80. SABATON: “The War To End All Wars” (WE)
96. DECAPITATED: “Cancer Culture”

Quelle: mtv.de