Immanuel Kant definierte die Aufklärung einst als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Der aufgeklärte Mensch hat also nicht nur gelernt, seinen Verstand zu nutzen, er hat auch den Mut, genau das zu tun. Doch was passiert mit uns, wenn wir plötzlich zu viele Informationen haben? Wenn Quellen so zahlreich und jederzeit zugänglich sind, dass die schiere Fülle an Optionen lähmend wirkt? Wenn es einfacher ist, sich die bequemste Wahrheit aus einem mannigfaltigen Angebot an Alternativen auszuwählen?
Fragt man ANAAL NATHRAKH, dann endet das in der Perversion der Aufklärung: „Endarkenment“, der krasse Gegensatz zu dem, was uns einst als unendlicher Horizont erschien. Ein kurzer Blick auf Twitter reicht dann auch, um der Theorie der Briten zumindest Plausibilität zu attestieren. Alternative Wahrheiten und krude Ideologien, es grenzt geradezu an wahnsinnigem Gehirnfasching, was den öffentlichen Diskurs dort bisweilen prägt.
ANAAL NATHRAK wandern zwischen kontrolliertem Chaos und destruktiver Epik
Anstatt sich ihre eigene Wirklichkeit zu malen, bleiben ANAAL NATHRAKH nüchtern. „Endarkenment“ ist Bestandsaufnahme und Analyse unserer Welt im Jahr 2020. Zwischen Pandemie und Idiotie rechnet das Duo mit einer Existenz ab, die mehr Karikatur als Realität zu sein scheint – es ist der Soundtrack, den die Welt verdient hat und den auch wir so bitter nötig hatten.
Dass die typischen Eckpfeiler ANAAL NATHRAKHs sich für dieses Kabinett des Schreckens anbieten, steht ohnehin außer Frage. Das neueste Werk der beiden Musiker ist abermals eine Gratwanderung zwischen kontrolliertem Chaos und destruktiver Epik. Klingt abstrakt, ist aber das Resultat eines wilden Stilmix, der weder vor Oldschool Death noch Black Metal, Melodeath oder gar Symphonic-Elementen Halt macht. Das vermischen ANAAL NATHRAKH mit einer Prise Grind zu einem hoch aggressiven und pausenlos intensiven Gesamtwerk.
Bei aller Härte durchziehen „Endarkenment“ klare Melodielinien
Trotz des fast schon zu dichten Mix überfordert uns „Endarkenment“ aber nicht, da das Duo Mick Kenney und Dave Hunt ein mehr als eingespieltes Team darstellt. Vor allem Letzterer läuft stimmlich zu Höchstform auf, schraubt uns mit dämonischen Screams und markerschütternden Growls zunächst den Kopf ab, um dann plötzlich mit fast schon erhabener Theatralik seine Singstimme im Großformat zu erheben. „The Age Of Starlight Ends“ sowie „Create Art, Though The World May Perish” profitieren von diesen Momenten, aber auch der Refrain von “Feeding The Death Machine” bleibt im Gedächtnis.
Hier zollen ANAAL NATHRAKH zudem den Skandinaviern von AT THE GATES hörbar Tribut. Kein Einzelfall, denn „Endarkenment“ durchziehen bei aller Härte und trotz ausgedehnter Blast Beats immer wieder klare Melodielinien. Das mag auf gesanglicher Ebene passieren, welcher Hunt durch seinen genial dosierten Falsett-Gesang an gewissen Stellen zusätzliche Dramatik verleiht („Libidinous (a Pig With Cocks In Its Eyes)“), spiegelt sich aber durchaus auch instrumental wider („Singularity“, „Punish Them“).
Zwischendurch verlieren aber selbst ANAAL NATHRAKH den Sinn für das Wahre, Gute und Schöne, wenn es ihnen in „Beyond Words“ etwa die Sprache verschlägt oder in „Thus, Always, To Tyrants“ ein verbitterter Blackened Deathgrind-Abriss den Ernst der Lage zu erkennen scheint. Das Spiel mit den Kontrasten funktioniert auch im extremen Bereich so gut, weil es uns vielleicht keinen roten Faden, aber immer wieder einen Ankerpunkt gibt, um uns für die nächste Schlagzeugsalve zu sammeln.
ANAAL NATHRAKH schreiben den Soundtrack des Jahres 2020
Die wird uns nämlich schon wenige Augenblicke später wieder vor sich hertreiben, Kopf voran ins Verderben. „A Gadarene charge into endarkenment“, spottet Hunt schon im unsterblichen Refrain des eröffnenden Titelstücks. Es ist ein Verweis auf den Gerasener Exorzismus im Neuen Testament, der mit einer besessenen Schweineherde endete, die sich wild geworden selbst ins Meer stürzte und dort ertränkte.
Ein wunderbares Gleichnis in Bezug auf den kompletten Irrsinn, welcher im Rahmen dieser Pandemie zutage getreten ist. Ist er eine Begleiterscheinung oder war er schon immer da? ANAAL NATHRAKH geben ihre Antwort bereits in den ersten vier Minuten: „Endarkenment“ ist nicht einfach nur die bloße Perversion der Aufklärung – eine offenbar bereitwillige Rückkehr des Menschen in die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ –, sondern nebenbei der bitterböse Soundtrack des Jahres 2020.
Veröffentlichungstermin: 2.10.2020
Spielzeit: 41:04
Line-Up
„V.I.T.R.I.O.L.“ Dave Hunt – Vocals
“Irrumator” Mick Kenney – alle Instrumente
Produziert von Mick Kenney
Label: Metal Blade
Facebook: https://www.facebook.com/Anaalnathrakhofficial
ANAAL NATHRAKH “Endarkenment” Tracklist
1. Endarkenment (Video bei YouTube)
2. Thus, Always, to Tyrants
3. The Age of Starlight Ends (Lyrics-Video bei YouTube)
4. Libidinous (A Pig with Cocks in Its Eyes)
5. Beyond Words
6. Feeding the Death Machine
7. Create Art, Though the World May Perish
8. Singularity
9. Punish Them
10. Requiem